Mucksmäuschentot
Wir beide fanden, er sehe aus wie ein Krimineller.«
Mum erwog es ernsthaft. »Kann sein«, sagte sie wenig überzeugt, »aber ich verstehe immer noch nicht, wie er es herausgefunden haben soll. Nur wir beide wissen, was in der Nacht geschehen ist.«
Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder von dem Brief angezogen, als besäße er eine magnetische Kraft, der sie nicht widerstehen konnte.
»Egal«, fügte sie hinzu, »wir werden es bald erfahren.«
Ich muss dumm geguckt haben, denn sie fuhr fort: »In dem Brief steht doch
Ich komme heute vorbei
. Dann werden wir es erfahren.«
Ich stellte mir vor, wie der Geländewagen-Typ in seinem schwarzen Ledermantel arrogant durch die Küche stolzierte, auf einem Stuhl lümmelte, Kaugummi kaute und uns drohend angrinste, wobei er jede Forderung mit einem Faustschlag auf den Tisch unterstrich. Ich zitterte vor Ekel, als hätte ich einen Stein im Garten umgedreht und einen wimmelnden Haufen Ohrenkneifer aufgeschreckt.
»Was sollen wir machen?«
Mum verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre ihr plötzlich kalt.
»Viel können wir nicht tun, Shelley. Falls der Erpresser zur Polizei geht, müssen sie den Hinweisen nachgehen. Sie werden nach einer Leiche suchen, mit Durchsuchungsbefehl und Hunden. Ich glaube, dann ist es vorbei …«
Ich stellte mir vor, wie die Hunde wild in der lockeren Erde des Rosenbeetes scharrten und einen Daumen ausgruben, weiß wie eine frische Blumenzwiebel.
Mum schaute wieder auf den Brief und zerknüllte ihn in einem plötzlichen Wutanfall.
»Ich verstehe das nicht! Wie konnte jemand das herausfinden? Wir waren so vorsichtig! Wodurch haben wir uns verraten? Und warum meldet sich der Erpresser erst jetzt – fast
zwei Monate
danach?«
Sie verzog das Gesicht, als sie den Kaffee austrank, und fuhr sich erregt durch das zerzauste Haar.
»Möchtest du noch einen?«
Sie nickte und hielt mir die Tasse hin. Als ich ihr einschenkte, zitterte sie heftig in ihrer Hand.
»Dann ist es also vorbei?«, fragte ich wie betäubt.
Mum strich den Brief auf dem Küchentisch glatt und betrachtete ihn erneut. »Ich glaube, wir sitzen in der Falle.«
In der Falle.
Welch passender Ausdruck. Wir waren immer noch Mäuse, die in einer metallenen Falle saßen. Unsere kleinen, streichholzdünnen Hälse waren sauber durchgebrochen.
»Können wir denn
gar nichts
tun?«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und zog sie hinunter, bis sie wie zum Gebet gefaltet ihr Kinn umschlossen. »Ich wüsste nicht was, Shelley. Ich wüsste nicht was. Uns bleiben nur wenige Möglichkeiten.«
Ich dachte daran, was wir alles unternommen hatten, um unentdeckt zu bleiben – wir hatten Paul Hannigans Leiche im Rosenbeet vergraben, waren mit dem verbeulten türkisfarbenen Auto des Einbrechers in die Stadt gefahren, hatten dem furchteinflößenden Geländewagen-Typen widerstanden, Mum war spätnachts in den Nationalpark gefahren, um die Müllbeutel in den Schacht zu werfen. War alles umsonst gewesen? Sollten wir am Ende doch verlieren – und das nicht durch die brillante Ermittlungsarbeit der Polizei, sondern wegen eines abscheulichen, geldgierigen
Erpressers
?
»Welche Möglichkeiten denn?«, fragte ich mit schriller Stimme.
Mum wandte mir ihr erschöpftes Gesicht zu. Sie war so müde, dass sie kaum die Augen offen halten konnte, als Sonnenstrahlen die Wolken durchbrachen und die Küche mit hellem Frühlingssonnenschein erfüllten.
»Wir könnten zur Polizei gehen und alles gestehen, bevor der Erpresser kommt. Auf jeden Fall ist es besser, wenn sie es von uns erfährt. Ein Geständnis, selbst zu diesem späten Zeitpunkt, dürfte sich vor Gericht günstig für uns auswirken.«
Ich sah das geisterhaft weiße Zelt über dem Rosenbeet, die Journalistenmeute in der Einfahrt, den Rücksitz des Polizeiautos, die schwarzen Polster, die heiß von der Sonne waren. Was würde danach kommen? Stundenlange Verhöre auf der Polizeiwache, demütigende Fotos, Fingerabdrücke. Und dann, nach elenden Monaten des Wartens, der Prozess. Ich würde mit zitternden Beinen auf der Anklagebank sitzen, während der Staatsanwalt mir die Frage entgegenschleuderte, die nicht zu beantworten war: »Miss Rivers, wenn Sie wirklich geglaubt haben, Sie hätten nichts Schlimmes getan, wenn Sie wirklich geglaubt haben, die ganze Zeit in Notwehr gehandelt zu haben, weshalb haben Sie dann die Leiche von Mr Hannigan in Ihrem Garten vergraben?«
In der Nacht, in der wir ihn getötet hatten, war uns eine Gefängnisstrafe als
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