Mucksmäuschentot
und lächelte. Ich wusste, wie kostbar jede Sekunde Schlaf für sie war.
Auf der Treppe vermied ich die verräterisch knarrende vierte Stufe, um keinen Lärm zu machen. Da sah ich es. Auf der Fußmatte vor der Haustür lag ein weißes Rechteck.
Ich wusste sofort, dass es Gefahr bedeutete. So früh war der Postbote noch nie gekommen.
Es war persönlich abgeliefert worden.
Ich hob es auf und sah den hässlichen Fettfleck
(Butter?)
, wo ein dicker Daumen die Lasche festgedrückt hatte.
Ich drehte ihn um. Die Vorderseite war unbeschrieben. Rasch riss ich den Umschlag auf.
Darin lag ein kleines Stück liniertes Papier, das von einem Notizblock abgerissen worden war. Darauf hatte jemand mit einem sterbenden Kugelschreiber eine Nachricht in Blockschrift hinterlassen:
Ich weiss, was Ihr getan habt.
Ich weiss, Ihr habt ihn getötet.
Ich will 20 000 Pfund, oder ich geh zur Polizei.
Bleibt im Haus.
Ich komm heute vorbei.
Ich rannte sofort nach oben und weckte Mum.
Keine fünf Minuten später saß sie in der Bluse, die sie gestern im Büro getragen hatte, Jeans und braunen Wanderstiefeln in der Küche. Sie kaute auf der Unterlippe und starrte wie gebannt auf das billige, durchscheinende Blatt Papier. Die Tränensäcke unter ihren Augen waren an diesem Morgen deutlich sichtbar, die äußerlichen Zeichen einer kranken Seele. Ihr Haar war verfilzt. Sie brütete mürrisch vor sich hin, wirkte verbittert. Sie hatte die Zähne nicht geputzt, und ich roch den Wein von gestern Abend in ihrem Atem. Keine Sekunde lang wandte sie die Augen von dem Brief, nicht einmal, als sie nach ihrer Kaffeetasse griff und den klebrigen Rand zum Mund führte.
Ich trug noch Schlafanzug und Bademantel. Der Schock hatte mich betäubt, ich war nicht in der Lage gewesen, mich anzuziehen. Schon lange hatte ich befürchtet, dass unser zerbrechlicher Friede ein Ende finden würde, hatte aber immer mit dem Klopfen an der Tür gerechnet (höflich, aber bestimmt), mit den uniformierten Beamten und ihren knisternden Funkgeräten, dem Schatten eines Lächelns auf dünnen, unfreundlichen Lippen. Doch ich hatte mir keine Sekunde lang vorgestellt, dass es so enden würde – mit einem schmierigen Brief, den ein Erpresser durch unseren Briefschlitz gestopft hatte.
Während Mum ihn wieder und wieder las, zermarterte ich mir das Hirn, um herauszufinden, wer dahinterstecken könnte.
Ich erinnerte mich an den Bauern, der vorbeigefahren war, als wir das Grab aushoben und die Leiche von Paul Hannigan mit dem Gesicht nach unten neben uns im Gras gelegen hatte. Mum hatte behauptet, er habe aus der Entfernung nicht sehen können, was wir taten. Wenn sie sich nun geirrt hatte? Wenn der Bauer
ganz genau
gesehen hatte, was wir an diesem Morgen getan hatten und sich nun, sechs Wochen später, dazu entschlossen hatte, ein bisschen Geld herauszuschlagen?
Auch der Geländewagen-Typ war eine Option. Mit dem kahlen Kopf und dem finsteren Ziegenbärtchen hatte er wie der Schurke aus einer Seifenoper ausgesehen, und wir hatten uns an jenem Abend auf dem Parkplatz definitiv verdächtig gemacht. Vielleicht hatte er eine Gelegenheit gewittert, um Geld zu verdienen, und war unserem Taxi bis zum Honeysuckle Cottage gefolgt. Falls er herausgefunden hatte, dass der Wagen, den wir auf dem Parkplatz abgestellt hatten, Paul Hannigan gehörte und dieser vermisst wurde, hatte er möglicherweise zwei und zwei zusammengezählt.
Oder war es sogar jemand, den ich kannte? Hatte Roger trotz meiner Bemühungen, normal zu wirken, doch etwas gemerkt? Hatte er den Blutfleck an der Hintertür gesehen? Er war außerordentlich clever und nicht sonderlich reich; darum arbeitete er ja als Hauslehrer. Doch das billige Papier, der schmierige Daumenabdruck, der Brief, der in den frühen Morgenstunden durch die Klappe geschoben worden war? Nichts davon schien zu dem peniblen Akademiker zu passen, den ich kannte. Andererseits existierte so etwas wie ein »Charakter« vielleicht gar nicht (eine Vorstellung, die Roger sehr aufregend fand), und dann hätte es ebenso gut er wie jeder andere sein können.
»Was glaubst du, wer dahintersteckt, Mum?«
»Ich weiß es nicht, Shelley«, sagte sie zerstreut und starrte noch immer auf den Erpresserbrief. »Ich weiß es nicht.«
»Meinst du, es könnte Roger sein?«
»Nein!«, schnaubte sie kopfschüttelnd. »Nicht Roger. Definitiv nicht. Wir haben es hier mit einem Kriminellen zu tun, vermutlich einem Gewohnheitstäter.«
»Was ist mit dem Geländewagen-Typ?
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