Mueller hoch Drei
zugleich ein Symbol des Zuviel und des Zuwenig.«
»Dafür bist du, gemessen an deinem Alter, ein ziemlich souveräner Denker.«
Doch diese Einschätzung wusste ich umgehend zu widerlegen. Denn in den nächsten neunzig Sekunden schrie ich alles, was mir zu meiner Familiengeschichte einfiel, lautstark in das Gedächtniscafé. Und es war weniger souverän als vielmehr aufgeregt. Außerdem war es weder druckreif noch jugendfrei. Ich schrie, bis ich wieder mal außer Atem war. Aber allmählich war ich auch ziemlich gut darin, schnell wieder neuen zu bekommen.
»Und die da?«, sagte ich schließlich in einigermaßen normaler Lautstärke. »Wer ist diese angebliche Siamesin?«
»Keine Ahnung. Lass dir doch ihren Personalausweis zeigen. Als ihr vermeintlicher Zwillingsbruder hast du darauf sicher ein Recht.«
»Stimmt!« Zum Glück hatte ich mich jetzt wieder vollkommen unter Kontrolle. Ich richtete mich auf, machte ein paar Schritte, in die ich alle Autorität legte, und baute mich vor meiner selbsternannten Zwillingsschwester auf. »’tschuldigung, Fräulein«, sagte ich im Bass. »Ausweiskontrolle!«
Sie tat beleidigt. »Es macht mich sehr traurig, dass du die Stimme des Blutes nicht aus mir sprechen hörst.«
Die Stimme des Blutes höre ich nicht, weil sie nicht spricht, sondern piepst und flötet! Das sagte ich allerdings nicht laut. Ich wiederholte nur im Ton genervter Verkehrspolizisten: »Ausweiskontrolle!«
Mit einer Geste, die meine Mutter vermutlich ladylike genannt hätte, kippte Paula daraufhin den Inhalt ihres Umhängetäschchens vor sich auf den Tisch. »Wollen doch mal sehen«, sagte sie gedehnt und stocherte mit einem spitzen Finger in den Sachen. Ein verschrammtes dunkelblaues Handy schubste sie zur Seite, ein paar andere Sachen auch, dann griff sie mit einem »Da bist du ja« nach einem kleinen, bestickten Futteral, groß genug, um genau einen Ausweis und sonst nichts zu enthalten. Sie öffnete es, zupfte auch tatsächlich einen Ausweis heraus und reichte ihn mir herüber, nicht ohne noch einmal zu betonen, wie sehr sie dieses kleinliche Misstrauen meinerseits schmerze.
Ich nahm den Ausweis. Und las den Text darauf. Aha! Die Besitzerin dieses Ausweises hieß Paula Veronika Wachsmuth, wohnte offenbar in Berlin und war an einem 22. Juli geboren. Soso. Interessant.
Den 22. Juli kannte ich persönlich. Dieser Tag fiel regelmäßig in den Sommer. Das war ganz nett, denn meistens war am 22. Juli sehr schönes Wetter. Andererseits waren am 22. Juli die meisten der mir näher bekannten Kinder in meinem Alter, so sie noch nicht von ihren Eltern verlassen worden waren, mit ebenjenen unterwegs im Urlaub und konnten also nicht eingeladen werden. Zum Beispiel zu einer netten Geburtstagsfeier mit allem Drum und Dran.
Zum Beispiel zu meiner Geburtstagsfeier. Der 22. Juli war nämlich mein Geburtstag! Ich sah noch einmal hin: Das Jahr stimmte auch.
Ich gab Paula ihren Ausweis zurück. Und um nichts weiter sagen oder erklären zu müssen, tat ich, als würde ich elegant in Ohnmacht fallen. Doch Eleganz ist nun mal nicht meine Stärke. Ich stieß mir den Kopf an einem der Wackeltischchen, und dann wurde es dunkel um mich.
Fräulein Wachsmuth
A ls ich wieder aufwachte, saß ich auf einem kleinen Sofa hinter der Theke des Gedächtniscafés. Jemand hatte ein paar Kissen unter meinen Kopf geschoben. Mir gegenüber saßen Paula und Tante Elke. Letztere hatte sich umgezogen und wirkte jetzt voll und ganz wie eine patente Frau Mitte dreißig.
»Na, habt ihr euch mittlerweile angefreundet?«, sagte ich. Es klang matt und so, als übte ich passende Sprüche für den Sammelband Berühmte letzte Worte verlassener Kinder .
»Klar«, sagte meine rosa Schwester. »Und Tante Elke hat mich auch davon überzeugt, dass ich mich bei dir entschuldigen muss.« Sie verdrehte wieder die Augen, was sie wirklich sehr gut konnte. »Natürlich waren wir nicht zusammengewachsen. Ich hab das bloß erfunden, um mich besser an dich ranmachen zu können. Im Grunde bin ich nämlich schrecklich schüchtern. Also hab ich mir sowas ausgedacht, um es uns beiden leichter zu machen.« Sie schloss mit einem »Hihi«.
Ob sich da vielleicht noch eine Lüge in dieser Beichte versteckte? Ich verscheuchte die Frage, weil mir davon schwindelig wurde. »Und die Narbe?«, sagte ich, während Tante Elke mir eine Hand auf die Stirn legte, um die Temperatur zu fühlen.
»Ich hatte ein Foto von dir. Da war sie drauf. Guck mal!« Damit krempelte
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