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Mueller und die Schweinerei

Mueller und die Schweinerei

Titel: Mueller und die Schweinerei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raphael Zehnder
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anschaut.
    Und Borowski: »Sie fürchten sich also davor, ohne Funktion zu sein … ohne Funktion … was meinen Sie genau damit?«
    »Ohne Funktion heisst –«, aber bleibt stecken. Wie sagen?
    »Erzählen Sie mir von dieser Angst.«
    Der Müller tut’s. Erzählt von der Festnahme des Wirtes Paul Meierhans in dessen Bar. Die Angst, dass etwas schiefgeht. Er die Grenzen überschreitet. Die Bilder sind zurückgekommen. Die Bilder sind …
    »Beschreiben Sie diese Bilder.«
    Der Müller tut’s. Er sah den Wirt Paul Meierhans, den Kopf auf den Tresen geschlagen, viermal, siebenmal, dreizehnmal. Er hörte Schreie und das Knacken wie von einer Eierschale. Er sah Blut, viel. Er fühlte sein Herz unregelmässig trommeln. Im Ohr rauschte das Blut, wieder Blut. Er fühlte sich rennen und die Waffe ziehen und plötzlich Dämmerung und die Hand streckt sich und der Hals ruft »Halt! Stehen bleiben! Polizei!« und der andere rennt weiter und ich hinterher, sagt der Müller, und der Finger krümmt sich, Blut und Blaulicht und Martinshorn und die Kollegen und dieser Mann … und endet: »Das will ich nicht.«
    »Und wie schlafen Sie?«
    »Etwas besser, denke ich. Aber die beiden letzten Nächte war ich viel auf Achse. Ich träume seltener von meinem Schusswaffenvorfall. Ich lese, bis mir die Augen zufallen, und hoffe, die Geschichte des Buches überdeckt die Bilder.«
    Schweigen.
    »Ich weiss«, sagt der Müller, »Verdrängung.«
    Zuckt die Schultern. Atmet laut aus. Atmet tief ein. Kann sich aussprechen bei Herrn Borowski, hilft, geht langsam, ist nicht mehr so dunkel. Borowski ist ein guter Zuhörer. Stellt Zwischenfragen, die dem Müller helfen, das Problem aus anderer Sicht zu betrachten. Zu begreifen. Fünfzig Minuten sind um.
    Und der Müller wieder draussen, am Rigiplatz, weiss nicht recht, wohin mit sich. Eigentlich würde er am liebsten alles sofort hinter sich lassen, Wohnung auflösen, packen, anderswo neu anfangen, wo ihn keiner kennt. Er könnte es, das spürt er. Ja, es geht ihm besser. Jetzt keine Lust auf Auto und Tram.
    Den Meierhans bekommen Bucher Manfred und die Kollegen schon in den Griff.
    Der Müller holt noch den Diodoros und die Zigaretten aus dem Auto und beschliesst, an den Fluss zu gehen, ins Flussbad Oberer Letten. Er spaziert in Richtung Stadtzentrum, immer der Schattenseite nach. Ein Badetuch kauft er sich unterwegs, nur nicht nach Hause in seine Höhle jetzt. Gesagt, getan und hin: Oberer Letten, Badetuch, auf Holzpritsche, Schwäne beobachten und Menschen. Ist schöne Beschäftigung, weil der Mensch im Grunde ein schönes Wesen ist. Natürlich nie an den Menschen heranzoomen wie bei Photoshop, um die Fehlproportionen und Unebenheiten wegzuretuschieren und das Licht und die Kontraste zu korrigieren. Wenn man den Menschen nimmt, wie er ist, ist er sehr schön. Müller ist froh, dass er das fast wieder so sieht und sich daran freuen kann, unter Menschen zu sein. Den Menschen zuzuschauen, die sich sonnen oder im Schatten liegen, in der Hand vielleicht ein Eis oder ein Bier, eine Zeitschrift oder ein Buch oder eine Hand. Der Müller hat nichts in der Hand, hat den Diodoros unter die Pritsche gelegt. Sitzt einfach nur da, in seiner Hose, eine Badehose wollte er sich nicht auch noch kaufen, aber Oberkörper frei. Schaut sich die Welt an. Schaut zu, wie die Körper im Fluss baden und sich der Sonne zeigen, hört Sprechen und Murmeln und Lachen und Plumpsen und Spritzen, wenn Kopfsprung oder Ränzler, also so richtiges Leben um den Müller herum. Obwohl er zurzeit nicht richtig dazugehört, findet er Gefallen am prallen Leben, das um ihn wimmelt. Ein Burn-out hat er ja nicht, der Müller, eigentlich ist er voll mit Drang und Taten und spitzt die Ohren hinsichtlich dem Lebensvektor namens Realität. Erschöpft sich noch schnell in Müdigkeit, klar, hat diese Stimmungskurven nach unten und umgekehrt steile Anstiege, hat diese Flashbacks, dann sitzt er da wie ein lummeliges Gemüse, so ludrig-schlapp und fühlt sich wie kalter Kaffee nach zwei Wochen, wenn schon der Schimmel drauf spriesst.
    Nicht schön.
    Aber so ist es manchmal.
    Tatsächlich döst der Müller jetzt vor lauter Sommerschlappheit auf der Holzpritsche im Flussbad Oberer Letten weg und schläft ein, und das ist ein gutes Zeichen, weil »der Welt ihr Schmerz wächst mit Gras zu, wenn die Wunden freilich über die Zeit hinweg in Ruhe gelassen« (Huang Zhu, 3.   Jahrhundert; approximative Übersetzung, weil schwierige Syntax).
    Und wie der

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