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Mueller und die Schweinerei

Mueller und die Schweinerei

Titel: Mueller und die Schweinerei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raphael Zehnder
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herum. Wenn dir in der Frischluftpause beim Kicken der Fussball über die Mauer fliegt, bleibt er draussen liegen und setzt Moos an wie alles Vergängliche. Du büsst die Strafe ab, bis du draussen niemanden mehr kennst und all deine Freunde davongealtert sind und ihre Adressen geändert haben und geschieden und Alimente zahlen und arbeitslos geworden oder neue Stelle gefunden und auch nicht glücklicher. Mietzins und Krankenkassenprämien sind ein Schock, wenn du plötzlich wieder draussen bist. Und du gehst zum Bahnhof Regensdorf-Watt und willst ein Billett in die Stadt kaufen, aber dein Geld ist nicht mehr gültig, weil wir haben jetzt – also das ist dann in der Zukunft – nicht mehr den Franken, sondern den Euro wie Kasachstan und Inguschetien. Dann weisst du, dass einiges an dir vorbeigezogen ist, das du in der Pöschwies verpasst hast. Neue Tierarten sind durch die Evolution entstanden und neue Gebirge und neue Ortschaften und neue Städte, und die Autos sehen auch ganz anders aus: Sie brauchen kein Benzin mehr, sondern Sonnenblumenöl und haben auf dem Dach eine work station, die verschiedene Dinge ausführen kann, das glaubst du nicht. Die Mode hat sich natürlich auch verändert, und in deinen Kleidern siehst du aus wie aus einem Kostümfilm. Alle drehen sich nach dir um, starren dich an und sehen dir an, dass du jahrelang eingebuchtet warst.
    Deshalb eine Warnung, ich meine sie ernst: Mach nie etwas, wo du nach Pöschwies Regensdorf kommst!
    Und das Auto mit Barmettler, Moser und dem festgenommenen Wirt schon lange in Richtung Polizeihaus abgefahren. Und der Müller steht immer noch am Strassenrand vor der Bar, schaut die Kastanienbäume an, atmet jetzt einen Zacken ruhiger, lehnt sich an ein Mäuerchen, raucht eine Zigarette, was er im öffentlich geförderten Film nicht mehr tun dürfte, weil das Bundesamt für Gesundheit uns alle zu Triathleten erziehen will. Aber der Müller braucht es gerade, und er schaut ein bisschen in der Gegend herum, um wieder normal zu werden. Weil der Schreck reitet ihm noch in den Knochen herum, und er hofft, dass das nie mehr vorkommt. Die Angst ist schlimm, die Angst vor der Angst auch, weil sie auch immer droht. Du weisst nie, wann sie wieder zum Vorschein kommt. Und du weisst nicht, ob die Angst das nächste Mal noch grösser ist.
    Vielleicht heute noch zum Psychologen, denkt der Müller. Den hat er ja. Herr Borowski, den er gestern am Telefon abgeklemmt hat. Aber ein Psychologe nimmt nichts persönlich. Hat ihm Borowski gleich in der ersten Sitzung gesagt. Alleine bekommst du das nicht hin, das sieht Müller ein. Er ist überfordert, da muss jemand her, der das gelernt hat, nicht ein Amateur, und auch kein Freund, der dir zwar helfen will, aber dich mit Samthandschuhen anschaut.
    Ruft an, hat Glück, ein Patient hat abgesagt, deshalb hat Borowski gerade eine Lücke. Fährt hin. Findet einen Parkplatz.
    Altbau beim Rigiplatz, Eingang von der Seite her, kleine Lücke zwischen zwei Häusern, sich durchquetschen zwischen Hausmauer und parkiertem »Special Utility Vehicle«, vulgo Goldküstenpanzer. Briefkästen. Klingel. Summer. Drücken. Acht Stufen ins Hochparterre. Holztür mit Glaseinsatz, darauf Blumenranken. 1910er-Jahre. Eintreten, Fischgrätparkett, etwas abgeschossen, vier, fünf Meter Korridorlänge. Tür zum Sprechzimmer offen, das heisst Müller muss nicht warten. Andreas Borowski erwartet ihn, den Psycho mit dem Schusswaffentrauma. Die Begrüssung ist schlicht, Hand schütteln, aber freundlich. Er setzt sich unaufgefordert dahin, wo er sich immer hinsetzt. Auf das Zweiersofa, das die Wand im Rücken hat. Der Müller braucht die Wand im Rücken, wie viele andere Patienten sicher auch. Das dürfte Borowski beim Einrichten bedacht haben. Vor Müller ein niedriges, schmales Tischchen als Begrenzung zwischen Klient und Therapeut, dem Polizeimann gegenüber das zweite Zweiersofa. Auch mit hellem Segeltuch bezogen.
    Müller schaut noch etwas im Raum spazieren, sieht das Bücherregal mit Fachliteraturwälzern, den Schreibtisch mit Telefon, darauf viele Papiere. In der Luft vertrauter Duftrest: Borowski scheint hier manchmal zu rauchen. An der Wand irgendein Druck, etwas Abstraktes zwischen Rothko und Polke: warme Farben, rot und gelb. Beruhigend.
    Ja, der Müller ist bereit, als sich Borowski aufs Sofa ihm gegenübersetzt.
    »Die Menschen, sie machen mich schon etwas kribbelig. Ich habe ja keine Funktion –«, sagt der Müller gleich zum Therapeuten, als der ihn

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