Mueller und die Tote in der Limmat
die Schüsse, angeblich von Mark auf Johnnys Küchenfenster. Das kann der Müller nicht einfach so sein lassen. Doch glauben Sie nun nicht, die Polizei Zürich lässt sich von der Boulevardpresse leiten, auch nicht, wenn sie online ist. Aber die Polizei Zürich kann die brain force der Boulevardpresse auch nicht einfach ignorieren. Weil Skandalpotenzial, wenn der Müller einen öffentlich namentlich bezeichneten mutmasslich Verwickelten unbehelligt ein Schnitzel kaufen liesse. Deshalb Trauben geschwind wieder in die Kiste gelegt.
Hinterhergeschlichen. Zurück in den Kreis 4, in die Ankerstrasse soundsoviel.
Treppen hoch und Tür nur angelehnt und der Müller in Combat-Stellung reingehechtet, etwas lächerlich, ich weiss, weil Müller ja krankgeschrieben und unbewaffnet ist.
Johnny steht mit traubenblauem Auge am Küchentisch, brüht gerade Kaffee auf, sieht müdemüdemüde aus, und der Müller springt wie ein Teufelchen um die Ecke und sagt:
«Hallo, jetzt sprechen wir ernsthaft miteinander.»
Und Johnny sagt: «Bist du ein Polizeimann oder nicht?»
Und der Müller, sprachökonomisch: «Ja.»
Und Johnny: «Was jetzt? Bist du einer?»
Und der Müller: «Ja. Wir können beim Du bleiben, das verkürzt die Unterhaltung.»
Johnny bleibt seltsam ruhig. Er schweigt und reicht Müller Benedikt eine saubere Tasse und giesst ihm ungefragt Koffein ein. Johnnys Wangen sind eingefallen. Sein nichtblaues Auge liegt tief in der Höhle. Er sieht richtig fertig aus. Eigentlich schade, denn auch ihn haben einmal eine Mama und ein Papa geliebt und vielleicht auch Geschwister. Sind drei, wie der Müller später aus der Akte erfährt, in Wallisellen aufgewachsen, ist nicht unbedingt die Sonnenseite, aber das ist noch lange kein Grund, finde ich, findet das Gesetz und finden Sie bestimmt auch, liebe Leserin, lieber Leser. Aber jetzt:
Der Müller: «Du hast mir etwas zu erzählen, Johnny.»
Und Johnny seufzt.
Und die Sekunden verstreichen ein wenig. Und noch einige mehr. Der Müller wartet, weil manchmal musst du warten. Manchmal bringt das mehr als die harte Tour, das weiss der Müller.
Und noch weitere Sekunden verfliessen. Die Erde dreht sich etwas weiter. Im Hirn von Johnny Maurer arbeiten die elektrischen Ströme.
Und sagt jetzt, zögerlich und etwas in sich niedergestreckt: «Wo soll ich anfangen?»
Der Müller, sachlich und neutral: «Vielleicht gestern Abend bei Tobys Fest.»
Und Johnny: «Das blaue Auge hat mir Mark verpasst.»
«Mark wie noch?», fragt der Müller. Weiss er zwar und wir auch, aber unzweifelhaft klare Aussage hilft unzweifelhaft klarer Akte. Weil später wird Johnny Maurer seine Aussage in der Polizeihauptwache wiederholen müssen, vor Tonband und Zeugen und dann unterschreiben.
Johnny ist kooperativ. Sagt’s: «Huber.»
«Und warum?», will der Müller wissen. Denn selten geschieht etwas grundlos.
Und Johnny, müde: «Das ist kompliziert.»
Und Pause.
Pause.
Jetzt vom Müller sehr forschender Blick, als könnte er damit Stahlbeton durchlasern. Kann er in Wahrheit nicht, aber Johnny spürt trotzdem Gefahr: den Polizeimann, der ihn mit Blicken in einzelne Nervenfasern zerlegt, die blank liegen.
Und der Müller lässt Johnny schmoren.
Schmoren.
Die Zeit zieht lange Fäden. Der Sekundenzeiger in Johnnys Kopf knarrt und bewegt sich an Ort, das heisst, scheint sich nicht vorwärtszubewegen, tut er ja auch nicht wirklich, sondern läuft bloss rundherum, rundherum, wie die Fahrer beim Sechstagerennen in Zürich-Oerlikon. Sehr sehenswert. Und es ist f-ü-n-f-z-e-h-n-u-h-r-d-r-e-i-u-n-d-z-w-a-n-z-i-g-u-n-d-z-w-ö-l-f-s-e-k-u-n-d-e-n-u-n-d-f-ü-n-f-z-e-h-n-u-h-r-d-r-e-i-u-n-d-z-w-a-n-z-i-g-u-n-d-d-r-e-i-z-e-h-n-s-e-k-u-n-d-e-n-u-n-d-f-ü-n-f – so dehnt sich für Johnny die Zeit unendlich in die Länge.
Aber Johnny und der Müller schweigen sich noch immer an, wobei zu bemerken ist: Johnny müsste jetzt sprechen. Er hat jetzt Gelegenheit und ist Gegenstand der Untersuchungen. Der Müller kann warten bis anno Tubak, irgendwann geht er in Rente. Um den Müller geht es nicht. Obwohl der Müller Beni jetzt, das hat mit Hitze und Anspannung zu tun, nehme ich an, jetzt ein FLASHBACK hat. Er sieht die Szene mit Holster und Pistole ziehen, rennende Gestalt, wirre Stimmen und Schritte auf dem Asphalt, jemand ruft etwas und Blaulicht und Sirene und zwei und drei und rennende Gestalten und Müller Waffe in der Hand, hebt den Arm und ruft und zielt und ruft und «Halt! Stehenbleiben! Polizei!» und zielt
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