Mueller und die Tote in der Limmat
dreiundzwanzig Stunden und achtundfünfzig Minuten schweigen.
Und der Müller Beni zieht sich schnell an und schlendert immer auf der Schattenseite der Strasse durch den Kreis 3, durch den Kreis 4, dem Kreis 5 zu. Sein Begehr: das smaragdgrüne Kühlwasser des Oberen Lettens. Unterwegs die Survivalübung: Er schwitzt unter der brutalen Supersonne im superschönen Zürich. Das Hemd klebt an seinen dynamischen Schulterblättern, die noch nichts an Spannkraft eingebüsst haben. 45 ist kein Alter.
Federnden Schrittes schaut er der blossen Haut zu.
Ach, ist das schön, diese vielen Menschen mit viel Nichts am Körper, Beine und Bäuche, wobei «Bäuche» irreführend, weil «Bauch» nicht gleich «Bauch» ist, weil wenn wenig Fett auch von «Bauch» die Rede ist, aber natürlich schöner als wenn Viel-Fett-Bauch. Zu wenig ist aber auch nicht gut, weil Unterernährung schädlich, wegen niedrigem BMI . Und Müller Beni sieht viele elastische Schritte mit Schlenkern und Kurven, du meinst, es ist Monte Carlo, aber es ist natürlich Zürich, Zürich an einem Sommersamstag … weniger geschäftig, weniger Business, und plötzlich ist da Raum für die Körper … ja, das ist Zürich, was denn sonst. Ja, das gefällt dem Müller, und wie. Denke nicht, er sei müssiggängerisch und mache es sich bequem, aber es gibt im Leben eines Polizisten, eines Mannes oder überhaupt eines Menschen Momente von unbestimmter Dauer, in denen der Polizist, der Mann oder überhaupt der Mensch erstens nachdenken muss und zweitens äusserlich von aussen betrachtet vollkommen im Schilf draussen steht.
Aber so kann man sich täuschen, und wer nur ein bisschen Lebenserfahrung mit sich führt, wird den Müller nicht verurteilen, weil er jetzt gerade scheinbar faul in der Badehose auf dem Holzsonnendeck im Oberen Letten liegt, nur dreissig Zentimeter über der Stelle im Smaragdwasser, wo am Montag die Tote in der Limmat, Sandra Molinari mit Namen und Sängerin von Beruf, herumstrudelte. Schon brutal, wenn man einmal näher darüber nachdenkt. Da kann man noch so nachdenken und sagen und hin und her und vorwärts und rückwärts. Das ist vorbei und gelaufen und aus, auch wenn sehr schade und traurig. Wäre nicht nötig gewesen. Abgesehen natürlich vom Rechtlich-Kriminalistischen, aber dafür ist der Müller da. Nämlich: Er liegt nicht faul und müssig und trallala, sondern aufmerksam wie ein Zerberus und nimmt mit Argusaugen Witterung auf vom Tatort, nein, genauer: vom Fundort, weil – polizeiliche Binsenwahrheit – Fundort ist nicht unbedingt der Tatort, weil jeder Körper, physikalisch gesehen «Körper», durch Kraft (F = m x a) von A nach B transportiert werden kann (W = F x ?, o Gott, schon lange her, dabei wusste ich das doch).
Und was sieht der Müller, während sich, sagen wir es ungeniert jetzt, es ist ja Sommer und die Lebensart ist leichter, seine Lenden spannen, weil er wirklich eine Bombenaussicht auf all die Schönheiten der Humanbiologie Europas und anderer Kontinente geniesst? Ich meine genauer: Was sieht er ausser all den wunderschönen Frauen (auf die Männer achtet er weniger, nicht weil irgendwie Diskriminierung oder so, verstehen Sie mich nicht falsch, das darfst du mir nicht krummnehmen, sondern der Müller interessiert sich für Männer nur so kollegenmässig, kumpelartig, Fussball und Kunsthaus und Kino und Nachtessen und so und Polizeiberuf natürlich)?
Was also?
Vor seinem geistigen Auge entrollt sich plötzlich, du glaubst es kaum, ein innerer Film, zwar nicht sehr gut gefilmt und vom Material her nicht preiswürdig, du meinst, es sei Dogma-Ware, grobkörnig, schlecht ausgeleuchtet, wie das bei als Dokumentarfilmen konzipierten Spielfilmen halt oft wegen der Authentizität, nicht wahr, aber eben dieser innere Film bildet nämlich eine weitere Spur.
Nämlich, als ob er es metaphysisch geahnt hätte, klingelt des Müllers Mobiltelefon, und Boulevardzeitungsmusikchef Toby F. Hubacher meldet sich mit der Stimme und erzählt dem Müller vom Faustkampf heute Nacht zwischen Mark Huber und Johnny Maurer. «Du kannst’s ausführlich nachlesen, ist jetzt online», sagt Toby. Und weil der Müller «Tobias» sagt, macht er jetzt nochmals auf informell:
«Nenn mich Toby, alle Leutchen nennen mich Toby.»
«Und mich nennen alle Müller, mit ü und zwei l, schon seit dem Kindergarten, aber danke, danke.»
Der Müller aber plötzlich völlig dienstlich und zurück zum brutalen Sie, Höflichkeitsform als Hammer: «Wo ist er?»
Er
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