Mueller und die Tote in der Limmat

aber oft gar nicht. Es reicht, wenn du einmal die Nachrichten hörst. Da fliegt dir das Grausen um die Ohren, dass du meinst, die Ohren fallen dir ab vor lauter Diktaturen und Blut und Wirtschaftskrisen und Verbrechen. Man könnte fast voll deprimiert werden, aber das hat auch keinen Sinn. Umgekehrt, finde ich wenigstens, aber ich weiss, ich bin kein so grosser Philosoph wie Diodoros und deshalb ist mein Urteil vermutlich nicht so wichtig, aber ich sage es trotzdem: Umgekehrt hat es auch keinen Sinn, einfach all das Böse auf dieser Welt aus dieser Erzählung wegzulassen, weil es existiert tatsächlich. Man muss auch bedenken: Die Welt ist gross, und es gibt zwar viel Böses auf dieser Welt, aber nicht überall zu jeder Zeit gleich viel. Es kann also gut sein, dass man auf der Welt lebt – zum Beispiel in der schönen Stadt Zürich – und fast gar nie in Kontakt kommt mit dem Bösen.
    Man kann sich das Böse auf der Welt vorstellen wie ein unsorgfältig bestrichenes Nutellabrot. An einigen Stellen ist das Nutella dick, an anderen ist es dünn. Und vielleicht bist du, liebe Leserin, lieber Leser, gerade und glücklicherweise an einer Stelle, wo das Nutella dünn ist oder gar nicht da. Dann siehst du den Himmel und die Venus und die Sonne, und die Welt funkelt und leuchtet und ist nur schön.
    Aber Obacht: Vielleicht stösst plötzlich von oben ein Messer voller Nutella herunter und verschmiert dir die Aussicht, und du sitzt völlig im Dunklen. Das ist ein Sinnbild: das Böse, vor dem man nie sicher ist. Deshalb brauchen wir Menschen voller Tatkraft wie den Müller und Bucher Manfred (97 Kilogramm) und die anderen Redlichen, die hier vorkommen, deren Namen ich aber noch nicht sagen darf, sonst ist die Auflösung jetzt schon da, und du liest nicht weiter, reisst die letzten paar Seiten aus dem Buch und gehst in den Buchladen und willst pro rata paginarum dein Geld zurück, und das wäre nicht nett, weil der Buchhändler und die Buchhändlerin haben es auch nicht einfach, vor allem heute nicht mit all den elektronischen Büchern und Online-Shopping.
    Aber, und das muss ich doch noch sagen, man muss auch nicht vor dem Bösen in Dauerangst leben. Denn überall ist es, wie uns das Nutellabrot gezeigt hat, nicht.
    ***
    Zurück zum Samstag. Wie der Müller und Johnny auf die Polizeihauptwache kommen, ins Verhörzimmer 419, bricht die ganz harte Tour an. Mit Bucher Manfred. Und Detektiv Rocco Catanzaro (29) ist auch in der Partie. Kurz zwei Wörter über Rocco: 172 Zentimeter, 69 Kilogramm, schwarzhaarig, Dreitagebart, keine Brille, harter Hund, ich sage dir nur: Altstetten-Grünau. Aber clever. Und sympathisch. Zu Freunden nett und trotz Kükenalter keine Prise naiv. Interessiert sich für Champions-League-Fussball, Strandferien, TV -Serien und Familie (verheiratet, zwei Kinder). So, jetzt weisst du alles.
    Also alle da ins Verhörzimmer 419 rein. Abgenutzter Resopal-Tisch. Drei Stühle. Bruchsicher. Stahlrohr. Am Boden festgenagelt. Kleines Oberlicht. Geschlossen. Sauerstoffgehalt: wenig. Temperatur: hoch, sehr hoch. Geruch: nach Angst.
    Und Bucher Manfred holt Kaffee. Und Müller Benedikt legt Zigaretten auf den Tisch. Johnny greift zu. Rocco gibt Feuer.
    «Fangen wir an», sagt der Müller und schaltet Aufnahmegerät ein.
    Der Müller sagt dienstlich: «Polizeihauptwache Zürich, Verhörzimmer 419, Datum, Samstag, zwölf Uhr dreissig, Vernehmung Hansueli Maurer, genannt Johnny, Ankerstrasse soundso. Es nehmen teil: Bucher Manfred, Catanzaro Rocco, Müller Benedikt.»
    Wenn du das abhörst, weisst du, wer da ist und wer fragt und antwortet und vielleicht schreit.
    Und nach allen Regeln der Kunst zerlegen Bucher Manfred, Catanzaro Rocco und Müller Benedikt das Geständnis von Johnny auf seinen Wahrheitsgehalt. Feststellung: Alles Falschaussage.
    Frage deshalb: Warum gesteht er ein falsches Geständnis? Es ist offensichtlich: Johnny ist völlig fertig. Will Ruhe. Will in Zelle schlafen, obwohl die Vermutung stimmt, dass es dort nicht komfortabel ist.
    Aber dort lauern kein Mark Huber und keine anderen Geldabzapfer. Johnny will den brutalen Blick vom Müller, Bucher und Catanzaro – keine Angst, ist nur beruflich – nicht mehr sehen. Es stellt sich schnell heraus, dass er sein Alibi verheimlicht, weil er jemanden schützen will: Jasmina. Jasmina Gajic (29). Ha! Johnny & Angelica ist passé, tempi passati, aber darum ist Johnnys Leben so teuer. Denn Angelica hat ihre Bedürfnisse und stellt ihre Ansprüche, und ihr Bruder