München - 2030
einem schwerfälligen Ächzen, das er von sich gab, seiner Kleidung entledigte und sich anschließend in das knarzende Bett legte. Victor saß in der Hocke unter dem Fenster und wagte sich nicht zu bewegen. Er musste diese unbequeme Haltung wohl eine Zeitlang ertragen. So eine Gelegenheit würde sich nie wieder ergeben – da war er sich sicher. Victor sah es fast als Karma, dass bisher alles so gut geklappt hatte. Diesmal musste es das Schicksal gut mit ihm meinen. Vielleicht lag es daran, dass er sich vorgenommen hatte Frau Schmerling zu retten. Vielleicht hingen Glück oder Missgeschick einer Handlung davon ab, was damit bezweckt wurde. Und dieses eine Mal, so war er der Überzeugung, war der Zweck den er verfolgte, allemal löblich.
Jetzt konnte er nur hoffen, dass Pillen-Ede einen festen Schlaf hatte. Schon nach ein paar Minuten hörte Victor das gleichmäßige dahingleiten von Pillen-Edes Atem. Victor wartete etwa eine halbe Stunde um ganz sicher zu gehen, doch die Atemgeräusche änderten sich nicht. Dann hörte er wie sich Pillen-Ede zur Seite wälzte. Er musste nun mit dem Rücken zu ihm liegen. Die Atemgeräusche waren dadurch etwas leiser geworden, aber sie kamen noch immer so regelmäßig wie zuvor. Pillen-Ede musste bereits in Tiefschlaf gesunken sein. Victor erhob sich aus der Hocke. Er bewegte etwas die Beine, die ihm fast eingeschlafen waren, damit sie wieder durchblutet wurden. Dann schob er in Zeitlupe das Fenster zur Seite und horchte, ob es ein Geräusch von sich gab. Doch es ging lautlos zurück. Wieder hörte Victor in das Zimmer, aber zum Glück waren die Atemgeräusche des Schlafenden unverändert. Victor hielt sich mit beiden Händen im Fensterrahmen ein und hob seinen Fuß auf das Fensterbrett. Für einen beinahe Siebzigjährigen keine leichte Übung. Aber schließlich hatte er das Fensterbrett überwunden und ließ sich langsam ins Zimmer gleiten. Einen Augenblick verharrte er so, und begab sich dann, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass noch immer alles in Ordnung war, auf die Knie, und bewegte sich kriechend zur Mitte des Zimmers hin. Auch das war für einen Siebzigjährigen nicht die einfachste Aufgabe und Victor fluchte in Gedanken, dass er nicht wenigstens ein paar Mal mit Susann zum Yoga mitgekommen war. Jetzt musste er sich über dem Tresor befinden. Vorsichtig tastete er mit seiner Hand über den Boden, da spürte er zuerst das Stoffband und ein paar Sekunden später fühlte er den Kopf des Schlüssels unter seinen Fingern. Plötzlich hörte Victor eine Stimme hinter sich, die ihm augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Ich hoffe, du hast meinen Rollator mitgebracht?«, sagte die Stimme.
Zur gleichen Zeit wurde das Licht angeschaltet. Victor spürte eine Luftzug im Nacken und er bekam einen gewaltigen Knall mit, als etwas sehr hartes auf seinen Hinterkopf traf. Auf einmal wurde es dunkel um ihn.
Pillen-Ede hatte ihn mit einem Baseballschläger niedergeschlagen.
Als Victor wieder zu sich kam, fand er sich in einem Stuhl sitzend. Er hatte solche Kopfschmerzen, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt hatte. Ihm kam es vor, als wenn sein Kopf um das doppelte angeschwollen wäre. Ein Stöhnen entwich seinen Lippen. Und als er den Kopf etwas anheben wollte, hatte er das Gefühl, ihm würde es den Schädel zerreißen.
Instinktiv wollte er mit der Hand an die schmerzende Stelle fühlen, doch als er versuchte seinen Arm zu bewegen, stellte er fest, dass es nicht ging. Langsam öffnete er die Augen. Dann sah er, dass ihm beide Arme mithilfe eines Paketklebebandes an die Armlehnen eines Stuhles gefesselt waren. Auch seine Füße ließen sich nicht bewegen, sie waren ebenfalls mit Klebeband an den Stuhlbeinen befestigt. Jemand musste ihn wie ein Paket auf einem Stuhl festgezurrt haben.
Noch bevor Victor wieder richtig zu sich gekommen war, riss ihn eine Stimme in die Wirklichkeit zurück.
»Ich hatte schon Angst, dass ich zu fest zugeschlagen hätte«, sagte Pillen-Ede und seine Stimme klang nahezu versöhnlich. Victor hob unter Schmerzen den Kopf. Er saß Pillen-Ede Auge in Auge gegenüber. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung war Victor auf eine seltsame Art fasziniert von Pillen-Ede. Obwohl dieser Gauner abgrundtief hässlich war, hatte er etwas Anziehendes. Auch wenn es nur eine Verschlagenheit war, die seinesgleichen suchte.
Pillen-Ede saß auf dem Bett und starrte Victor neugierig
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