München - 2030
können. Weltreiche kamen und gingen: das Alexanderreich, das Römische Reich, das Osmanische Reich und viele andere, sie hatten ihre Zeiten gehabt, dann hatten sie sich verzettelt und waren wieder verschwunden. Die Vorherrschaft der westlichen Welt hatte ebenso wenig einen Anspruch auf die Ewigkeit besessen. Lange schon waren die westlichen Systeme im Sinkflug begriffen. Es war der Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit der westlichen Politiker- und Manger-Lobby zuzuschreiben, welche die Zeichen der Zeit nicht wahrgenommen, oder unterschätzt hatten – jetzt lag ganz Südeuropa und auch Amerika am Boden.
Doch dort, in Mauritius, schien die Welt noch in Ordnung zu sein – das hatte Victor in dem Filmbericht gesehen.
Victor hatte keine bestimmte Idee, die er verfolgte. Außer, dass er sehr, sehr viel Geld für einen Flug mit mehreren Personen nach Mauritius benötigte.
Flugreisen waren exorbitant teuer und nur noch für die kleine Schicht der Supereichen zu finanzieren. Doch sofern man über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte, konnte man überall hinfliegen, wohin man wollte. Und Victor kannte nur einen einzigen Menschen, bei dem er sich vorstellen konnte, dass dieser über eine ausreichende Menge Geld verfügen musste. Und dieser Jemand, war niemand anderes als Pillen-Ede.
Am Hauptbahnhof stieg Victor aus. Es war bereits nach zwanzig Uhr und die Dunkelheit hatte schon eingesetzt. Victor hatte die Kapuze seiner Jacke nach oben geschlagen. Es war ein heruntergekommener alter brauner Anorak den er trug. Die grellrote Barbour-Steppjacke hatte er seit damals nicht mehr angehabt. Und mit dem Anorak und der aufgezogenen Kapuze würde ihn so schnell niemand wiedererkennen, sofern er ihm nicht direkt ins Gesicht blickte.
Ganz wohl war es Victor bei dieser Sache nicht, im Gegenteil ihm war überaus mulmig zumute. Auch hatte er noch keinen Plan, wie er an das Geld von Pillen-Ede herankommen sollte. Das einzige was ihn zu dieser Handlungsweise ermutigt hatte, war die Überlegung, endlich diesem ganzen Wahnsinn zu entkommen und die letzten Jahre, die ihm und seinen Freunden noch verblieben in einer angenehmeren Art und Weise zu verbringen. Bislang war Victor mit seinem Leben immer zufrieden gewesen, er hatte immer das getan was er für richtig hielt. Obwohl ihm ja bei der Motorradwerkstätte, der Landmaschinenwerkstatt und auch der Cannabisplantage, die er im Keller seines Hauses betrieben hatte, immer die gesetzliche Legitimation gefehlt hatte, war es das gewesen was er zum damaligen Zeitpunkt tun wollte – und er hatte sich immer als freier Mensch gefühlt.
Sogar als die Zeiten schlechter wurden und er mit den Diebstählen von Rollatoren angefangen hatte, sah er sich noch als jemand, der für eine ausgleichende Gerechtigkeit sorgte, indem er nur die Reichen bestahl – aber nun wurden selbst die Reichen arm und die Abwärtsspirale, in der sich das Land bewegte, wollte kein Ende nehmen.
Ein Leben, so dachte Victor, sollte wie ein gutes Buch oder ein spannender Film sein – das Ende war entscheidend. Selbst ein halbwegs gutes Buch oder ein einigermaßen guter Film, konnte durch einen gelungenen Abschluss noch eine glückliche Wendung erhalten.
Und da es sowieso bergab ging, schließlich war Victor nicht mehr der Jüngste, war er bereit alles noch einmal auf eine Karte zu setzten.
Victor zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, als er durch einen der Eingänge in die Bahnhofshalle trat. Gerade zu dieser Zeit trieb sich am Bahnhof nur noch Gesindel herum. Heruntergekommene und hungrige Alte – verwahrloste Individuen – Diebe, Mörder und Totschläger, die nach neuen Opfern Ausschau hielten. Die Masche war fast immer dieselbe. Sie sprachen die arglosen Neuankömmlinge an, die mit ihrem wenigen Hab und Gut aus den Zügen stiegen und boten ihnen an, sie zu einer netten Pension oder einem billigen Hotel zu bringen, das fast nichts kostete. Später fand man sie dann niedergeschlagen und ausgeraubt. Oder, was dann und wann auch vorkam, mit eingeschlagenen Schädel oder einem Messers im Rücken, in einer der umgebenden Straßen oder Toreinfahrten liegend. Auf jeden Reisenden kamen so, bis zu zwanzig dieser Halsabschneider. Und es war mehr als ein Glück, wenn man heilen Hauptes die Bahnhofsgegend verließ.
Victor spürte sofort die abschätzenden Blicke von diesem Gesindel auf sich lasten. Doch nachdem sie annahmen, dass er wohl einer von ihnen war, interessierten sie sich nur noch
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