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Münsterland ist abgebrannt

Münsterland ist abgebrannt

Titel: Münsterland ist abgebrannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Kehrer
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konnte sie genauso gut hier liegen bleiben und unentwegt auf die Schaumkronen des Nordmeers starren. Was für ein armseliges Ende eines Tages, der so hoffnungsvoll begonnen hatte.
    Endlich einmal hatte ein echtes Erlebnis auf dem Programm gestanden: Fahrt mit RIB -Booten zu den Reusen, in denen Königskrabben gefangen wurden, und anschließender Verzehr der frischgekochten Riesenkrabben in einem traditionellen Sami-Zelt. Während das gemeine Volk von Honningsvåg aus, wo die MS Albertina ankerte, in Bussen zum Nordkap gekarrt wurde, um zusammen mit vielen anderen Schaulustigen das karge Ende Europas zu bestaunen, waren Helene und Frederik sowie das aufrechte Häuflein der anspruchsvolleren Passagiere zu einem kleinen Fischereihafen gepilgert. Dort hatten sie Schutzanzüge und Schwimmwesten erhalten und waren in die großen Schlauchboote gestiegen, die mit ihren starken Außenbootmotoren bis zu 35 Knoten machten und immer wieder von der geriffelten Wasseroberfläche des Magerøysundes abhoben. Helene bewunderte die blonden, rotwangigen Norwegerjungs, die in ihren grellbunten Gummihosen hinten an den Motoren hockten und die Boote lenkten. Doch noch mehr genoss sie es, direkt neben dem kurzhaarigen Burschen zu sitzen, der ihr am Vortag erstmals aufgefallen war. Geschickt hatte sie sich zwischen ihn und die Blondine gedrängt und ihm beim Einsteigen in das Boot den Arm entgegengestreckt. Dem Jüngling war gar nichts anderes übrig geblieben, als Helene zu helfen – und schon saß sie neben ihm, Bein an Bein. Die Blondine hatte das klaglos hingenommen und sich neben Frederik auf eine andere Bank gesetzt. Was Helenes Vermutung erhärtete, dass es sich bei den beiden nicht um ein Paar handelte.
    Aus der Nähe sah der Junge mit den kurzen blonden Locken noch besser aus als von oben. Auf seinem Gesicht lag unter dem Dreitagebart ein melancholischer Schatten, er schien schon mehr und Schlimmeres von der Welt gesehen zu haben als die meisten seiner Altersgenossen. Helene bekam eine Gänsehaut. Der Typ strahlte etwas Brutales aus, dazu musste er sie nicht einmal mit diesem durchdringenden Blick anschauen. Und dass er zupacken konnte, sah man an der Art, wie er die Krabbenreuse vom Meeresgrund hochzog. Helene stellte sich vor, unter ihm zu liegen und seine groben Hände auf ihren Oberarmen zu spüren. Er würde sie hart anfassen, da war sie sich sicher, und sie würde es genießen. So lieb und kuschelig Rafael auch war, auf Dauer konnte der Blümchensex mit ihrem devoten Sekretär ziemlich langweilig werden. Rafael würde sich eher in die Hand beißen, als ihr mal einen Schlag auf den nackten Hintern zu verpassen.
    Helene zündete die nächste Stufe der Annäherung. «Ich heiße Helene. Und Sie?»
    «Julian», knurrte er aufs Wasser hinaus. Anscheinend kein Konversationsgenie.
    «Wenn man mal von neunzig Prozent unserer Mitreisenden absieht, war die Fahrt bis jetzt recht amüsant, finden Sie nicht?»
    «Ja.»
    Himmel, der Junge war trockener als Mehlstaub. «Was reizt Sie denn an der Route? Spitzbergen? Oder doch die norwegischen Fjorde?»
    «Keine Ahnung. Freunde haben mich eingeladen.»
    Inzwischen waren die Krabbenfallen an die Wasseroberfläche gezogen und in die Boote ausgekippt worden. Kleine Monster mit Beinspannweiten von einem Meter und mehr schoben sich zwischen die Füße der Touristen, rissen dabei ihre Kiemenhöhlen auf, in denen ein verkümmertes fünftes Beinpaar einen seltsamen Tanz aufführte. Der Anblick erinnerte Helene an gruselige außerirdische Spinnentiere in schlechten Science-Fiction-Filmen. Ein besonders aufdringliches Exemplar, das mit seiner Beinschere an ihrem Schuh herumzwickte, beförderte Helene mit einem energischen Tritt an die Bordwand. Das Tier nahm die Attacke gelassen hin, wie sollte es auch ahnen, dass in dem Fußtritt eine gehörige Portion Frust steckte. Helene konnte einfach nicht fassen, dass ein männliches Wesen, dem sie ihre Aufmerksamkeit schenkte, sie derart eiskalt abblitzen ließ wie dieser maulfaule Julian. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Jedenfalls nicht, solange sie sich erinnerte.
    Die Boote nahmen wieder Fahrt auf und steuerten auf eine Landzunge zu, an deren Ufer ein etwa zehn Meter hohes Sami-Zelt aufgebaut war. Der Stachel der Niederlage provozierte Helene zu einem letzten Versuch. Bei einer scharfen Rechtskurve fiel sie unbeholfen gegen Julians Schulter und legte Halt suchend ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Doch auch diesmal zeigte der Junge keine Reaktion, nicht

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