Münsterland ist abgebrannt
Ostfriese vielfältige Aufgaben, das Schiff zu lenken, war dabei die geringste, die überließ Visser meistens seinen osteuropäischen Offizieren. In erster Linie waren beim Kapitän Entertainer-Qualitäten gefragt. Und schon rein optisch entsprach Visser dem Anforderungsprofil: groß gewachsen, schlank, wettergegerbt, um die sechzig, blond und blauäugig. Ein solcher Kapitän flößte Vertrauen ein, besonders den Passagieren, die bei etwas stürmischerem Wetter von Untergangsphantasien geplagt wurden. Schon deshalb ließ sich Visser dauernd unter den Passagieren blicken, stand bei den Galas auf der Theaterbühne oder für alberne Scherze der Animateur-Crew zur Verfügung. «Solange Sie mich an Deck sehen, müssen Sie sich keine Sorgen machen», hatte Visser mal zu Helene gesagt. «Erst wenn Sie mich nicht mehr sehen, gibt es ein Problem.» Wie viel Wahrheit darin steckte, wusste Helene nicht. Denn auch bei dieser Gelegenheit hatte Visser den Kopf in den Nacken gelegt und gelacht.
Während Helene den Hummer und die Riesengarnele niedermachte, redete der Kapitän über die Route der nächsten Tage. An der Packeisgrenze entlang nach Osten, falls das Wetter es zulasse, wolle man einen Blick auf die Insel Moffen werfen und dann durch die Hinlopenstraße nach Süden, in die Barentssee. Nicht bei jeder Kreuzfahrt in die Arktis sei es möglich, die Hauptinsel von Svalbard, eben Spitzbergen, zu umrunden, doch in diesem Sommer seien die Bedingungen günstig. Und in zwei Tagen werde man dann in Longyearbyen anlegen.
Bei der Erwähnung des Namens dachte Helene unwillkürlich an Ujo. Ulrich Joachim Vogtländer, der an der Uni immer nur Ujo genannt wurde. Der Feigling hatte ihr zurückgeschrieben, dass er keine Zeit habe, sie zu treffen. Sie war allerdings nicht gewillt, das zu akzeptieren. Sie würde ihn finden, ihn notfalls auch aus seinem Kältebunker herausholen. Auf jeden Fall mussten sie reden, über die Vergangenheit und die Zukunft. Die Ereignisse der letzten Tage, die Ermordung von Mergentheim und Weigold, hatten ihr klargemacht, dass Ujo ein Sicherheitsrisiko darstellte. Zu lange dauerte das Schweigen zwischen ihnen schon an, zu sehr hatten sie sich entfremdet, um einschätzen zu können, ob sie sich noch auf ihn verlassen konnte.
Nicht dass Helene Angst gehabt hätte. Sie war ganz und gar kein ängstlicher Mensch. Auch dieser kleinkarierte Bürokratenkommissar aus Münster – wie hieß er noch gleich: Fahle? Oder Fahlen? – hatte es nicht geschafft, sie zu verunsichern. Bei dem Telefongespräch, das sie mit ihm geführt hatte, war von einer Todesliste die Rede gewesen, auf der möglicherweise auch ihr Name stand. Und wenn schon. Hier, auf der Albertina, war sie sicher. Bis sie wieder im Münsterland eintraf, hatte Kommissar Fahle doch reichlich Zeit, die Mörder zu schnappen. Genau das hatte sie dem eingebildeten Bullen auch an den Kopf geknallt, verbunden mit der dringenden Bitte, sie nicht weiter zu behelligen.
Angst war es also nicht, weshalb sie mit Ujo reden wollte. Es ging vielmehr darum, ihr Lebenswerk zu sichern.
Die Teller des Hauptgangs waren abgeräumt. Der Restaurantchef wartete auf ein Zeichen des Kapitäns. Kein Captain’s Dinner ohne Eisbomben mit brennenden Wunderkerzen, der Budenzauber gehörte einfach dazu. Und dann kamen sie auch schon herein: Kellnerinnen und Kellner in einer Reihe, die funkensprühenden Eisbomben einhändig über dem Kopf balancierend. Showtime.
«Danach verschwinde ich», sagte Frederik mit finsterem Gesicht.
«Ich möchte mit dir reden», antwortete Helene kühl. Es war an der Zeit, Frederiks neue Freundin etwas härter anzufassen. Um zu sehen, wie sie darauf reagierte.
«Worüber?»
«Mit dir und deiner Freundin.»
«Was soll das?»
«In einer halben Stunde in der Columbus-Bar.»
Frederik sagte nichts mehr, schlang das Eis hinunter und verabschiedete sich anschließend hart am Rand der Unhöflichkeit. Trotzdem war sich Helene sicher, dass er kommen würde. Ihr Sohn war klug genug, zu wissen, wann er keine Wahl hatte.
«Der junge Mann hat sich wohl ein wenig gelangweilt», bemerkte Kapitän Visser.
«Er muss lernen, mit solchen Situationen umzugehen», entgegnete Helene.
«Wem sagen Sie das? Ich habe selbst zwei erwachsene Töchter.» Visser ließ seine blauen Augen blitzen. «Was halten Sie von einem kleinen Absacker an der Bar, Frau Lambert?»
Schon beim ersten Captain’s Dinner hatte sich Helene gefragt, wann der Kapitän wohl zum Angriff übergehen würde.
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