Münsterland ist abgebrannt
durchs Dorf besichtigt. Die einzige Straße durfte man ja nicht verlassen, nicht nur wegen der Vögel, die in der kargen Tundra nisteten, sondern auch wegen der Gefahr, von hungrigen Eisbären angefallen zu werden. Helene fand die Eisbärenwarnschilder und die Aufforderung, die Siedlung nie ohne Gewehr zu verlassen, zwar ziemlich putzig, aber so hatten ihre Mitreisenden wenigstens schöne Fotomotive.
Der Höhepunkt des Reiseprogramms sollte allerdings noch kommen. Von Ny Ålesund im Königsfjord war die Albertina weiter nach Norden gefahren, bis zum Magdalenenfjord ganz im äußersten Nordwesten Spitzbergens. Am Ende der Bucht, in der kleine Eisberge schwammen, ragte die Abbruchkante eines Gletschers fünfzig Meter in die Höhe. Das bläulich schimmernde Eis des Gletschers war bislang das Beeindruckendste, was Helene auf dieser Reise gesehen hatte. Zumal sie es fast mit Händen greifen konnte. In einem Beiboot war sie mit dem Zweiten Offizier der Albertina und zwei Matrosen ganz dicht an den Gletscher herangefahren. Die Matrosen hatten ein frisch abgebrochenes Stück Gletschereis aus dem Meer gefischt und an Bord gezogen. Den größeren Teil des Brockens verwandelte später einer der philippinischen Kellner, der über eine gewisse kunsthandwerkliche Geschicklichkeit verfügte, auf dem Achterdeck in eine Eisskulptur. Unter den Augen der staunenden Passagiere, die das restliche Eis in ihren Whiskygläsern schwenkten. Eine der vielen Legenden, die vom Kreuzfahrtdirektor und seinen Leuten bei allen möglichen Gelegenheiten aufgetischt wurden, besagte, dass Gletschereis viel lauter knisterte als gewöhnliches Eis und dem Whisky einen außergewöhnlichen Geschmack verlieh.
Ob Legende oder nicht, der Trick hatte bei Helene funktioniert, sie hatte sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, am Nachmittag zwei Whiskys genehmigt. Und bei dieser Gelegenheit gleich noch Frederik dazu verdonnert, mit ihr zusammen am Captain’s Dinner teilzunehmen. Frederik hatte sich gesträubt, darüber gejammert, dass diese Essen doch nur Versammlungen von Scheintoten seien, die lediglich von ihren Stützstrümpfen und Bauchweg-Gürteln aufrecht gehalten würden. Doch Helene hatte sich nicht erweichen lassen, für das, was Frederik ihr neulich an den Kopf geworfen hatte, würde er noch eine ganze Weile Buße leisten müssen.
Mit klammheimlicher Freude registrierte Helene, dass die Sitznachbarin ihres Sohnes, eine im Verhältnis zu Frederik mindestens dreimal so alte Dame, die zudem noch allein erschienen war, sich ihm gegenüber wie ein verliebter Teenager gebärdete. Sie redete fast ununterbrochen und versuchte ständig, ihn zu berühren, vorzugsweise indem sie ihre Hand auf seine legte. Frederiks Angespanntheit war fast physisch spürbar, der Junior stand kurz vor der Explosion.
Als er merkte, dass Helene ihn beobachtete, beugte er sich zu ihr herüber. «Die Oma nervt tierisch», flüsterte er ihr ins Ohr. «Ich halt das nicht mehr aus.»
«Du bleibst bis zum Ende», zischte Helene zurück. «Stell dich nicht so an! Leute wie wir haben gesellschaftliche Verpflichtungen. Und dazu gehört es nun mal, solche Situationen auszuhalten.» Und damit Frederik begriff, dass sie darüber nicht länger diskutieren wollte, wandte sie sich wieder dem Kapitän auf der anderen Seite zu: «Wie weit geht’s denn noch nach Norden? Können Sie das schon sagen?»
«Na ja.» Kapitän Enno Visser präsentierte seine etwas zu makellosen Zähne. «Bis zur Packeisgrenze. Ich schätze, dass wir sie morgen früh erreicht haben. Vor ein paar Jahren wäre es noch nicht möglich gewesen, so hoch zu kommen, wissen Sie? Da zog sich das Eis im Sommer nicht so stark zurück. Wenn der Temperaturanstieg in der Arktis weiter anhält, dürfte es bald neue Kreuzfahrtrouten geben: Von Europa über den Nordpol nach Alaska.»
«Im Ernst?»
«Noch ist das Zukunftsmusik.» Visser lachte sein Seebär-Lachen. «Aber wer weiß? Es hätte auch niemand gedacht, dass die Nordwest- und die Nordost-Passage mal für die Frachtschifffahrt genutzt werden könnten. Heute ist das im Sommer fast normal. Mal sehen, vielleicht bringen wir morgen ein Beiboot an eine Eisscholle. Für einen kurzen Landgang unter Robben und Walrossen sind Sie doch bestimmt zu haben, Frau Lambert?»
«Robben und Walrosse sehe ich jeden Tag. Auf dem Sonnendeck.»
Der Kapitän lachte. «Aber die auf den Eisschollen haben weniger an.»
Helene mochte Vissers herben Charme. Als Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes hatte der
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