Münsterland ist abgebrannt
Letzte, was Vogtländer von Bo gehört hatte, dass der Chinese an den Lugu-See reisen und die Dorfgemeinschaft, die sie damals heimgesucht hatten, um Verzeihung bitten wollte. Seitdem herrschte Funkstille.
Bo.
Ein Gedanke blitzte in Vogtländers Gehirn auf: Hatte der alte Chinese die Mordserie ausgelöst? Waren die Attentate eine Art tätige Reue für ihr kollektives Versagen? Aber warum stand er, Vogtländer, dann auch auf der Liste? Schließlich hatte er Bo zugesichert, seinen Teil zur Aufklärung beizutragen.
Der Biologe blickte zu den bereits adressierten, dicken Umschlägen, die neben dem Computermonitor auf dem Schreibtisch lagen. Ja, versprochen hatte er es Bo schon, bloß gehalten hatte er sein Versprechen bislang nicht. Das musste er unbedingt ändern. Gleich morgen früh würde er die Briefe zur Post bringen.
«Deshalb ist es wichtig, dass wir den Mund halten», redete Helene weiter, als ahne sie seine nächsten Schritte. «Solange wir nichts ausplaudern, kann uns niemand etwas nachweisen. Auf die chinesischen Behörden ist Verlass. Die werden einen Teufel tun, irgendwelche Informationen preiszugeben.»
«Ich mache reinen Tisch, Hel.»
«Was?»
«Die Veröffentlichung der unrühmlichen Geschichte unserer Expedition ist mein Vermächtnis. Sie geht morgen an zehn der wichtigsten biologischen Institute auf der Welt, zusammen mit einer Samenprobe
Baba
.»
Schweigen.
Nach einer Weile räusperte Helene sich. «Wo hast du die Samen her?»
«Von Bo.»
«Bo also!», spuckte Helene. «Er steckt dahinter?»
«Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Bo ist ein alter Mann, der Skrupel bekommen hat. So wie ich.»
«Und deshalb willst du verbrannte Erde hinterlassen?»
Vogtländer lachte. Oder versuchte es zumindest. «Ich bin am Ende, Hel. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Das
Baba
gehört den Mosuo, nicht dir. Und wenn sie schon nicht die Möglichkeit haben, davon zu profitieren, dann soll es wenigstens allen zur Verfügung stehen, denen der Wirkstoff helfen kann. Nicht nur den Auserwählten, die deine hohen Preise zahlen können.» Er richtete sich auf. «Das hätte ich schon längst machen sollen. Aber ich war zu feige.»
Die Rede hatte Vogtländer angestrengt. Er schnappte nach Luft und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Auch Helene schwieg. Für ihre Verhältnisse eine Ewigkeit. Dann sagte sie: «Ich verstehe, dass du mich hasst.»
«Ich hasse dich nicht.» Vogtländer hustete. «Ich …»
«Ich bin nicht fair zu dir gewesen. Ich habe mit dir gespielt.»
«Und wenn schon. Was spielt das für eine Rolle?»
«Bist du nach mir mit einer Frau glücklich geworden?»
Vogtländer schluckte. Seine Stimme wurde brüchig: «Was soll das, Hel? Die Mitleidsschiene zieht bei mir nicht.»
«Hast du Kinder, Ujo? Gibt es wenigstens einen Menschen, der sich um dich kümmert, wenn du stirbst?»
Er konnte es nicht verhindern, die Tränen liefen ihm über die Wangen. «Warum tust du das?», flüsterte er mit erstickter Stimme. «Warum quälst du mich?»
«Ich bin die einzige Frau, die du jemals geliebt hast?»
Er nickte. Wie ein treuherziger Idiot.
«Und wenn ich dir sage, dass du einen Sohn hast?»
«Du lügst.» Er schluchzte.
«Ich lüge nicht. Ich habe dir damals erzählt, dass der Mann, den ich geheiratet habe, der Vater von Frederik ist, weil ich nicht wollte, dass du dich in mein Leben einmischst. Aus demselben Grund weiß auch Frederik nicht, dass du sein Vater bist.»
«Und warum soll ich dir jetzt glauben?», fragte Vogtländer.
«Du musst mir nicht glauben», sagte Helene. «Ich bringe dir morgen ein Haar von Frederik mit. Sicher verfügst du über Geräte, mit denen du die DNA analysieren und mit deiner eigenen vergleichen kannst. Dann weißt du es.»
«Selbst wenn es stimmt», keuchte Vogtländer, «was ändert das?»
«Vieles», sagte Helene. «Falls du das tust, was du vorhast, zerstörst du nicht nur mein Leben, sondern auch das deines Sohnes. Ich bitte dich nur um eines, Ujo: Warte mit deiner Entscheidung bis morgen. Warte so lange, bis du deinem Sohn in die Augen geblickt hast.»
Die Verbindung brach ab.
Lange starrte Vogtländer auf den dunklen Bildschirm. Er war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wieso hatte diese Frau eine solche Macht über ihn? Wie schaffte sie es, ein derartiges Chaos in ihm auszulösen? Warum musste sie ihn mit der Hoffnung demütigen, einen Sohn zu haben?
Vogtländer zog die Briefe zu sich heran und fuhr gedankenverloren mit der Hand darüber. Ja, er
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