Münsterland ist abgebrannt
Wirkung. Leider nicht nur im positiven Sinn. Das Opiat verlieh Vogtländer eine trügerische Gelassenheit, vernebelte sein Gehirn. Dabei brauchte er seine volle Konzentration. Für einen Plan zur Rettung der
Baba
-Samen. Für einen Plan, um sich selbst zu retten. Zumindest ein paar Stunden lang. Oder einen Tag. Bis das Schlimmste vorüber war.
Er schaute auf die Uhr. Schon zwanzig Minuten waren vergangen. Zwanzig wertvolle Minuten, in denen er in der Küche gesessen und darauf gewartet hatte, dass die Schmerzen nachließen. Er hievte sich aus dem Stuhl hoch und stapfte mit bleiernen Füßen ins Arbeitszimmer. Die Umschläge. Er musste sie an einem sicheren Ort verstecken. Zum Abschicken hatte er jetzt keine Zeit mehr. Vielleicht hatten es die Killer gar nicht auf die
Baba
-Samen abgesehen, vielleicht war es ihnen egal, was damit passierte. Aber er durfte es nicht darauf ankommen lassen, durfte kein Risiko eingehen.
Unter der Treppe befand sich ein Stauraum, vollgestopft mit Gerümpel. Ausrangierte Kleidung, kaputte Elektrogeräte, mit überflüssigen Erinnerungen gefüllte Koffer, Dinge, die längst auf den Müll gehört hätten. Kein ideales Versteck, doch ein besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Immerhin machte er sich die Mühe, die Umschläge ganz weit hinten, in einer Kiste mit alten Schallplatten, zu vergraben. Seit bestimmt zwanzig Jahren hatte er die Platten nicht mehr gehört, die meisten stammten noch aus seiner Studentenzeit. Eigentlich schade, er hatte die Musik geliebt. Vogtländer nahm sich vor, einen ganzen Abend lang Platten abzuspielen. Sollte das hier gut ausgehen.
Während er sich rückwärts aus dem kleinen Kabuff bewegte, verursachte er so viel Chaos wie möglich, schob die Behälter und losen Teile in- und übereinander. Wer auch immer einen Blick in den Verschlag warf, durfte keine Lust verspüren, sich durch den ganzen Kram zu wühlen. Im Flur hörte er, wie vor dem Haus ein Auto hielt.
Verdammt! So schnell hatte er nicht mit ihnen gerechnet.
Vogtländer kroch auf allen vieren in das Zimmer zur Straße und hob den Kopf so weit, dass er vors Haus blicken konnte. Sie waren zu dritt, zwei Männer und eine Frau. Junge Europäer, Deutsche wahrscheinlich. Sie schauten sich um. Die Straße war leer. Vogtländers Nachbarn arbeiteten oder lagen nach einer Nachtschicht im Bett.
Der Biologe kroch zurück in den Hausflur. Sollte er die Polizei anrufen? Den Männern, die er gerade noch belogen hatte, erklären, dass er sich in Lebensgefahr befand? Wie lange würde es dauern, bis sie kamen? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Nein, so viel Zeit hatte er nicht.
Es klingelte an der Haustür. Vogtländer erstarrte. Dann ein Klopfen und eine freundliche Frauenstimme: «Dr. Vogtländer? Sind Sie da? Mein Name ist Franziska Schmidt, ich komme von der MS Albertina. Ich habe eine wichtige Mitteilung für Sie. Von Frau Lambert.» Klopfen. «Herr Dr. Vogtländer, hören Sie mich? Bitte öffnen Sie die Tür!»
Er musste weg. Sofort. Die Verbindungsmauern zwischen den einzelnen Häusern verhinderten, dass man von der Straße zur Rückseite der Gebäude gelangte. Das war seine Chance. Vogtländer schlich in die Küche, die sich auf der Bergseite befand, und öffnete das Fenster. Plötzlich kamen ihm Zweifel. War er draußen nicht noch schutzloser als drinnen? Er konnte ja nicht einmal rennen. Und wohin sollte er flüchten?
Wieder pochte es an der Haustür.
Wo konnte er bloß hin? Tine! Ja, das war die Lösung. Vogtländer wusste, dass seine Nachbarin meistens den Autoschlüssel im Zündschloss stecken ließ. Wie viele andere Einwohner von Longyearbyen. Auf Spitzbergen musste man sich nicht vor Autodieben fürchten, weil auch die längste Straße schon nach zwanzig Kilometern endete.
Vogtländer schob ein Bein über das Fenstersims und zog das andere hinterher. Dann ließ er sich auf die karge graubraune Erdkruste fallen. Die Anstrengung und der Schmerz raubten ihm den Atem. Für solche Hochleistungen war sein Körper nicht mehr geeignet. Wie gern hätte er sich ausgeruht, doch er musste weiter.
Tine wohnte am Ende der Häuserzeile, ihr Auto wäre von dort aus leicht zu erreichen. Unterwegs zog Vogtländer sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Regierungsbevollmächtigten. Besetzt. Natürlich, die Polizisten hatten jetzt viel zu tun. Der angebliche Doppelselbstmord auf dem Schiff. Vogtländer dachte an den Kripomann aus Münster, Matt, ja, das war sein Name. Anscheinend war der Kerl
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