Münsterland ist abgebrannt
jetzt sein? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig? Kein Kind mehr, ein Mann. Wem er wohl ähnlicher sah, Helene oder ihm, seinem Vater? Wie gern hätte er Frederik wenigstens einmal in den Arm genommen, mit ihm über alles geredet, was sie verband und trennte. Vielleicht hätten sie sich verstanden, vielleicht hätten sie zusammen gelacht und geweint, vielleicht … Zu spät.
Die Gedanken verschwammen. Er begann zu träumen. Flog mit dem Schneemobil über das bläulich schimmernde Eis. Der schwarzblaue Februarhimmel. Keine Menschenseele. Nur Eis und Berge. Ein Licht am Horizont. Gleißend hell.
Vogtländer fuhr darauf zu. Bald würde ihn das Licht umhüllen. Um ihn herum tanzten Gestalten aus Nebel. Sie griffen nach seinen Armen und Beinen. Hoben ihn hoch und trugen ihn fort.
Mitten ins Licht.
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Neunundzwanzig
«Gibst du mir eine Waffe?», fragte Bastian.
Knut Hansen schüttelte den Kopf.
«Warum nicht?»
«Würde ich ja. Aber wir haben keine zu viel.»
Super, dachte Bastian. Drei norwegische Polizisten und ein Zivilist gegen drei Verrückte, die zu allem entschlossen waren. Die beste Voraussetzung für ein Desaster.
«Ich habe mit Tromsø telefoniert», sagte Hansen. «Sie sind auf dem Weg.»
«Wie lange dauert das?»
«Zwei Stunden. Oder drei.»
Bis dahin konnten sie alle tot sein.
Immerhin war Tor zu ihnen gestoßen. Hansen hatte sich dafür eingesetzt, dass Yasi freigelassen wurde. Bastian war es gelungen, kurz mit ihr zu telefonieren. Er hatte sie gebeten, im Hotel auf ihn zu warten. Sie war besorgt gewesen, natürlich, und er hatte versucht, sie zu beruhigen, von einem normalen Polizeieinsatz gesprochen, als ob so etwas jede Woche vorkommen würde. Dabei hatte er erst zweimal in seiner gesamten Polizeilaufbahn im Dienst eine Kugel abgefeuert. Einmal ganz am Anfang, kurz nach der Ausbildung, als er und seine Kollegen von einer Gruppe Neonazis angegriffen wurden. Ein Warnschuss, weit über die Köpfe der Heranstürmenden. Mit dem zweiten Schuss, Jahre später, hatte er einen Hund getötet. Der Hund war von einem Auto angefahren worden und litt fürchterlich, Bastian hatte ihm den Gnadenschuss gegeben.
Noch ein Kilometer bis zum Flughafen. Im Auto roch es nach Schweiß. Männerschweiß mit einer Prise Angst. Bastian hatte Hansen eindringlich gewarnt, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Und Hansen hatte die Warnung an seine Kollegen weitergegeben.
Tor, der neben Bastian auf der Rückbank saß, guckte starr geradeaus. Die Augen von Lars, der den Wagen lenkte, waren hinter einer verspiegelten Sonnenbrille versteckt. Hansen telefonierte.
«Sie sind noch in der
Vault
.» Hansen stand in ständiger Verbindung mit der Managerin der Samenbank, die von ihrem Büro in der Innenstadt aus das Geschehen über Videokameras verfolgte. Daher wussten sie, dass Mareike Vollmer alias Annika Busch und die beiden Männer Vogtländer überwältigt und in die Kühlkammer geschleppt hatten. Der Biologe würde sterben, wenn es ihnen nicht gelang, ihn in der nächsten halben Stunde herauszuholen.
Falls er nicht schon tot war.
«Wo sind sie genau?», fragte Bastian.
«Auf dem Weg nach Ausgang.»
Lars bog von der Flughafenstraße ab und fuhr den Berg hinauf. Der Eingang zur Samenbank steckte wie ein stählerner Keil im Felsen.
«Du bleibst im Auto», sagte Hansen.
«Das könnte dir so passen», erwiderte Bastian. «Ich komme mit.»
Hansen seufzte. «Aber mach keine dummen Dinger. Du bist hinter mir, verstanden?»
Lars stoppte den Polizeiwagen auf dem kleinen Parkplatz gleich unterhalb des Eingangs. Die Männer sprangen heraus, Hansen sagte etwas, Lars und Tor nickten mit versteinerten Gesichtern. Bastian sah, wie die Norweger ihre Pistolentaschen öffneten, dann liefen sie mit gezogenen Waffen den asphaltierten Weg hinauf.
Bastian folgte ihnen zum Tor, auf dessen Schwelle ein Felsbrocken lag. Wie eine kaputte Aufzugtür rasselte der Stahlmechanismus immer wieder gegen den Stein. Sie quetschten sich durch den Spalt, den der Brocken offen hielt, und standen in dem hell erleuchteten Tunnel. Der denkbar schlechteste Ort für eine Festnahme, die glatten Tunnelwände boten keinerlei Deckung. Aber auch draußen, vor dem Eingang, hatte Bastian keine geeignete Stelle entdeckt. Und sie mussten unbedingt verhindern, dass die Mörder entkamen und womöglich Geiseln nahmen, um ihre weitere Flucht zu erzwingen.
Hansen hielt seine Kollegen an, sich über die Breite des Tunnels zu verteilen, so boten sie
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