Münsterland ist abgebrannt
Hochschulkarriere, Professur, Renommee, Privilegien. Ein größeres Eigenheim als die Eltern, eine hübsche Frau, mindestens zwei Kinder. Das perfekte Leben. Dann war es anders gekommen.
Ulrich Vogtländer schloss die Augen. Nur jetzt nicht einschlafen. Noch nicht. Einschlafen war der Tod. Er würde nicht mehr aufwachen.
Sie hatten ihn vor der ersten Stahltür eingeholt, die beiden Männer und die Frau. Das Tor am Eingang war nicht schnell genug eingerastet. Schon im Tunnel hatte er ihre Schritte hinter sich gehört. Schnelle, dynamische Schritte. Er dagegen tapste kraftlos. Aber die Panik hatte ihn angespornt. Und so hatte er die erste Stahltür der Kühlkammer vor ihnen erreicht. Seine letzte Hoffnung bestand darin, rechtzeitig die Tür hinter sich zu verschließen. Im Korridor vor der eigentlichen Lagerhalle würde er überleben, den Schlüssel-Code der Tür konnten seine Verfolger nicht knacken. Doch dann hatte er einen Schwächeanfall erlitten. Ausgerechnet in dem Moment, als sich die Tür öffnete, war er zusammengebrochen. Sie hatten ihn hochgezogen, ins Innere geschleift, getreten. Geredet hatten sie auch, die Frau vor allem. Vogtländer hatte nicht verstanden, was sie sagte. Es spielte auch keine Rolle, er wusste ohnehin, um was es ging. Und was sie von ihm wollten: seinen Tod.
Sie hatten ihn durch die Kälteschleuse in die Lagerhalle gebracht, erneut geschlagen und getreten und ihn dann liegen gelassen. Bei achtzehn Grad minus. Ein gesunder Mensch hielt das ohne Thermokleidung ein paar Stunden aus. Aber er war nicht gesund, er war todkrank, verletzt und erbärmlich schwach. Trotzdem hatte er es versucht. Noch einmal aufzustehen und sich in den Korridor zu schleppen. Es ging nicht. Er hatte keine Kraft mehr.
Nur nicht entspannen. Auch wenn es verlockend war. Nicht mehr kämpfen müssen. Nachgeben. Den Tod akzeptieren. Vogtländer spürte die Kälte nicht mehr. Genauso wenig wie seine Beine und Arme. Ihm war jetzt ganz warm.
Er dachte an Helene. An ihren glatten, außerirdisch schönen Körper. An ihre Haare, die auf seiner Brust lagen. Damals, in Münster, in ihrem Studentenapartment. Sie hatten sich geliebt, die ganze Nacht lang. Sie waren so jung und gierig gewesen. Gierig nach Leben, nach Sex, nach Erfolg. Helene hatte ihn mitgerissen, hatte ihn in ihre Welt geholt. Eine Welt, in der andere Maßstäbe herrschten. Helenes Gesetze. Helenes Moral. Helenes Logik. Es hatte vor und nach Helene andere Frauen in seinem Leben gegeben. Aber keine war auch nur annähernd an ihre Klasse herangekommen. Und an ihre eiskalte Entschlossenheit.
Sie hatte ihn geformt und zu ihrem Geschöpf gemacht. Und ihn verstoßen, als er anfing, wieder eigenständig zu denken. Er hatte sich gefühlt wie ein Taucher, dessen Luftschlauch plötzlich durchgeschnitten wird. Von einem Tag auf den anderen war die Verbindung gekappt. Helene hatte ihn zurückgelassen – als seelischen Krüppel.
Es gab Affären, hier und da. Mal dauerten sie ein paar Tage, mal ein paar Monate. Sie halfen ihm, die Leere in seinem Leben zu verdrängen. So wie der Alkohol. Die glorreiche Hochschulkarriere, die ihm bevorgestanden hatte – nur noch eine bröckelnde Ruine. Er hangelte sich von einem Forschungsprojekt zum nächsten, angewiesen auf Christians Gnade. Dabei wusste er, dass Christian ihm nur half, weil Helene dafür sorgte. Noch immer hing er an Helenes Fäden. Sie wachte über ihn. Schließlich war er ein wandelndes Risiko, das ihr wachsendes Imperium zerstören konnte.
Spitzbergen war seine Rettung gewesen. Seine Flucht aus der Welt. Eine Existenz als Einsiedler. Ohne Frauen, ohne Alkohol, ohne Zwang, etwas beweisen zu müssen. Viele Jahre vergingen in erträglicher Halbdepression. Bis sich Bo meldete und die Zweifel zurückkamen. Der Drang größer wurde, reinen Tisch zu machen. Sich als das zu outen, was er war: ein Lügner, ein Betrüger, ein Verbrecher. Jeden Tag focht er diesen Kampf aus.
Und dann kam der Krebs. Vielleicht hing beides zusammen. Vielleicht war auch dafür Helene verantwortlich. Hatte sie ihm nicht das Gift injiziert, das sein Leben zersetzte? Und am Ende seinen Körper?
Zumindest eines hatte er Helene zu verdanken: dass er hier lag, dass er hier sterben würde. Ohne ihre Ankunft in Longyearbyen hätte er noch einige Tage oder Wochen länger geatmet. Was für ein lächerlicher Gedanke. Nein, er hatte dieses Ende verdient. Das beschissene Ende eines beschissenen Lebens.
Er dachte an seinen Sohn. Frederik. Wie alt mochte er
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