Muensters Fall - Roman
nicht heute Morgen behauptet, Sie hätten sie seit über einem Jahr nicht mehr besucht?«
Mauritz Leverkuhn leerte sein Glas.
»Das habe ich vergessen«, sagte er. »Stimmt, ich habe sie einmal im Herbst besucht.«
»Vergessen?«, sagte Münster. »Sie waren am Samstag, dem 25. Oktober dort, dem gleichen Tag, an dem Ihr Vater ermordet wurde.«
»Was zum Teufel spielt denn das für eine Rolle?«
Er schien sich immer noch nicht entschieden zu haben, welche Haltung er einnehmen sollte, und Münster war klar, dass es in seinem Kopf ziemlich rotieren musste. Aber eigentlich hatte er doch auf einen weiteren Besuch gefasst sein müssen? Hätte
wissen müssen, dass Münster früher oder später wieder auftauchen würde. Oder hatten Grippe und Fieber ihn vollkommen abstumpfen lassen?
»Können Sie mir erzählen, worüber Sie mit Irene im Oktober gesprochen haben?«
Mauritz Leverkuhn schnaubte.
»Man kann mit Irene nichts Vernünftiges reden. Das müssen Sie doch bemerkt haben, wenn Sie bei ihr waren?«
»Vielleicht normalerweise nicht«, sagte Münster. »Aber ich glaube, sie war an diesem Samstag nicht wie sonst.«
»Was meinen Sie denn damit schon wieder?«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen erzähle, was sie Ihnen gesagt hat?«
Mauritz Leverkuhn zuckte mit den Schultern.
»Quatschen Sie nur weiter«, sagte er. »Sieht so aus, als wär’ bei Ihnen eine Schraube locker. Und das schon die ganze Zeit.«
Münster räusperte sich.
»Als Sie dort ankamen, hatte sie gerade eine Therapiesitzung hinter sich, nicht wahr? Bei einer gewissen Clara Vermieten. Sie haben sie direkt danach besucht, und dann ... dann fing sie an von Dingen zu erzählen, die Ihre gemeinsame Kindheit betrafen und von der Sie nicht die geringste Ahnung hatten. Die Ihren Vater betrafen.«
Mauritz Leverkuhn verzog keine Miene.
»So war es doch, oder?«, fuhr Münster fort. »An diesem Samstag im Oktober vorigen Jahres haben Sie von Umständen erfahren, von denen Sie vorher nichts gewusst haben. Umständen, die, zumindest teilweise, den Ausbruch von Irenes Krankheit erklären können. Dass sie so geworden ist, wie sie wurde.«
»Sie spinnen ja«, sagte Mauritz Leverkuhn.
»Und war es nicht so, dass Sie das so sehr berührt hat, dass Sie im Großen und Ganzen die Fassung verloren haben?«
»Verdammt noch mal, was faseln Sie sich da eigentlich zusammen?« , murrte Mauritz Leverkuhn.
Münster machte eine kleine Pause.
»Ich rede davon«, sagte er dann, so langsam und nachdenklich,
wie er es vermochte, »dass Sie erfahren haben, dass Ihr Vater Ihre beiden Schwestern während ihrer Kindheit und Jugend sexuell missbraucht hat und dass Sie sich daraufhin ins Auto gesetzt haben und nach Maardam gefahren sind und ihn dort getötet haben. Davon rede ich.«
Mauritz Leverkuhn saß immer noch unbeweglich da, die Hände auf den Knien gefaltet.
»Ich kann es teilweise sogar verstehen«, fügte Münster hinzu. »Vielleicht hätte ich sogar das Gleiche gemacht, wenn ich in Ihrer Haut stecken würde.«
Vielleicht waren es genau diese Worte, die Mauritz Leverkuhn die Taktik wechseln ließen. Oder zumindest ein wenig nachgeben. Er ließ einen tiefen Seufzer vernehmen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schien sich ein wenig zu entspannen. »Das werden Sie niemals beweisen können«, sagte er. »Das ist ja zu lächerlich. Meine Mutter hat gestanden, dass sie es getan hat ... und wenn es sich so mit meinem Vater verhalten hat, wie Sie behaupten, dann hätte sie ja einen genauso guten Grund gehabt. Oder?«
»Mag sein«, sagte Münster. »Aber es war nun einmal nicht Ihre Mutter, die es getan hat. Das waren Sie.«
»Das war sie«, sagte Mauritz Leverkuhn.
Münster schüttelte den Kopf.
»Warum sind Sie eigentlich an diesem Samstag zu Ihrer Schwester gefahren?«, fragte er. »Weil diese Frau Sie verlassen hat? Das würde zumindest vom Zeitpunkt her hinkommen.«
Mauritz Leverkuhn antwortete nicht, aber Münster konnte ihm ansehen, dass seine Vermutung richtig war. Es läuft wie immer, dachte er. Wie bei einer Patience, die dabei ist, aufzugehen, und plötzlich fallen die Karten in einer fast voraussagbaren Reihenfolge.
»Soll ich Ihnen die Fortsetzung erzählen?«, fragte er.
Mauritz Leverkuhn erhob sich mühsam.
»Nein, danke«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie jetzt von hier verschwinden. Sie haben jede Menge krankhafter Fantasien, und ich bin nicht bereit, Ihnen noch weiter zuzuhören.«
»Ich dachte, Sie hätten mir zugestimmt, dass Irene
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