Mürrische Monster
Richie.
Zwei Häuser lehnten in merkwürdigem Winkel aneinander, ihre Fundamente waren zertrümmert. Sie standen schief am Rand einer Senkgrube von der Größe eines Swimmingpools, die sich in der Mercer Street zwischen Nates Wohngegend und dem Stadtzentrum auftat. Ein drittes Haus war vollständig eingestürzt. Zerborstenes Glas, verbeulte Möbel und zerbrochene Regalbretter lagen auf der Straße verstreut. Eine Gruppe von Arbeitern lud Schutt auf einen Laster, während ein Mann, eine Frau und drei Kinder vom Nachbargarten aus zusahen, wie die Überreste ihres Hauses fortgekarrt wurden.
»Kail ist in der Grube verschwunden«, sagte Nate mit einem schuldbewussten Seufzer. »Ich habe ihn entkommen lassen, und jetzt ist er stark genug, um Häuser einzureißen.«
»Fangen wir ihn ein«, sagte Richie. »Komm, ich warte schon seit Wochen auf ein bisschen Action.«
»Das können wir nicht. Er steckt unter der Erde. Dorthin können wir ihm nicht folgen.«
»Wenigstens wissen wir jetzt, wo er is«, sagte Richie.
»Ja«, murmelte Nate düster, »irgendwo im Zentrum unter den Wolkenkratzern.« Er wandte sich um und machte sich auf den Heimweg. »Eins nach dem anderen«, sagte er. »Zuerst müssen wir den Troll finden.«
8. Kapitel
Lillis Wohnwagen
Der Lake Union lag am nördlichen Rand des Stadtzentrums von Seattle. Dutzende von gut besuchten Restaurants und Läden säumten das Südufer, viele Terrassen zogen sich bis aufs Wasser hinaus. Kein guter Ort für einen davongelaufenen Troll , dachte Lilli, während sie vom Gas Works Park am gegenüberliegenden Nordufer auf den See blickte.
Der Gas Works Park war eine fünfzig Hektar große Halbinsel, die weit in das Gewässer hineinragte. Die Stadt Seattle hatte das Grundstück 1962 erworben und in eine öffentliche, für jedermann zugängliche Parkanlage umgewandelt, aber es hatte eine Bedingung gegeben: Das stillgelegte Gaswerk durfte nicht abgerissen werden. Die maroden, fünfzehn Meter hohen Gas-Silos erhoben sich über den Rasenflächen wie mürrische, finster dreinbli-ckende Riesen. Lilli fand sie toll. Sie wirkten wunderbar deplatziert in dem fröhlichen Grün des Parks, ein industrieller Kontrast zur frischen Luft und der Weitläufigkeit des Geländes. Dass man die Silos erhalten hatte, gefiel ihr.
Lilli beobachtete das Wasser. Die willkürlichen Zusammenstöße der Wellen ließen den See funkeln wie einen Weihnachtsbaum. Alles war fortwährend im Wandel, herrlich chaotisch, aber inzwischen starrte sie seit einer Stunde auf das Wasser und hatte keinen Hinweis auf den Troll entdeckt. Sie trat aus dem Schatten des vor sich hin rostenden Werksgebäudes. Es besaß eine ganz eigene Schönheit, zum Beispiel in der Art, wie die Verwitterung den Anstrich durchsetzte und dadurch ganz neue Farbtöne erschuf. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, hätte man sagen können, dass der Rost das stillgelegte Gaswerk bei lebendigem Leib auffraß, aber Lilli sah das Ganze mit den Augen einer Künstlerin.
Sie ging den Weg hinauf zum Wohnwagen. Eigentlich war das Gefährt ja ein umgebauter Tourbus, den die gescheiterte Sechzigerjahre-Folk-Band Groove-a-Thon ausrangiert hatte. Er fuhr nicht mehr. Deshalb wurde er von dem kleinen geblümten VW-Käfer gezogen, was physikalisch zwar unmöglich war, aber trotzdem irgendwie funktionierte. Die Außenwände waren mit kunterbunten Bildern bemalt, die Fenster in schillernden Grün-und Orangetönen überpinselt.
Lilli schaute sich prüfend um, dann schob sie die zweiteilige Falttür auf und kletterte in den Bus.
Der langgezogene Eingangsbereich mündete in ein großes Wohnzimmer. Die Schlafzimmertür lag links, und durch einen Türbogen blickte man in die Küche. Dass die Räume so groß und die Gänge so lang waren, war physikalisch natürlich genauso unmöglich wie der Umstand, dass das kleine Auto den schweren Bus zog, und doch war es so. Von außen war Lillis Wohnwagen nur ein unbewegliches Fahrzeug. Drinnen aber war er so geräumig wie ein kleines Haus.
Lillis Blick wanderte über die psychedelische Wohnzimmerlandschaft. Lebendige Farben zogen über die Wände, dann lösten sie sich von ihnen ab und schwebten leuchtend durch den Raum. Sie glitten zu ihr heran, umflossen verspielt ihre Füße und schmiegten sich um ihre Knöchel wie verschmuste Katzen. Auf dem Boden schwammen formlose Farb- und Tongebilde wie ein zum Leben erwachter Teppich.
Lilli schwenkte die Hand durch die Luft, und wo immer sie hindeutete, veränderten sich die
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