Muetter ohne Liebe
unzufrieden ablehnend, desinteressiert, aggressiv oder ausbeutend und gewiss von eigenen Interessen und Zielen geleitet. Beide Aspekte in das normale Bild der Mutter integrieren zu können, würde einen erheblichen Druck von den Müttern nehmen, im Sinne des Muttermythos «perfekt» sein zu müssen. Das Kind wiederum könnte sich mit einer realen, authentischen Mutter auseinandersetzen, seinen eigenen Wahrnehmungen von der Mutter und der Beziehung zu ihr trauen und es wäre auch von manchem Schuld- und Verantwortungsgefühl befreit.
6.2.2 Wahrnehmung von problematischen und destruktiven Mutter-Kind-Beziehungen
Der Verzicht auf den Muttermythos erlaubte auch einen unverstellteren Blick auf die Tatsache, dass es zahlreiche Mütter ohne Liebe bzw. destruktive Mutter-Kind-Beziehungen gibt. Tatsächlich spricht nicht viel für die Ideologie, dass jede oder so gut wie jede Mutter gut oder das Beste für ihr Kind sei, schon gar nicht in einer intensiven, exklusiven und langjährigen Beziehung. Eine gute Mutter «zugeteilt» zu bekommen, ist ohnehin mehr oder minder ein Glücksfall, bei dem die Chancen ungefähr fünfzig zu fünfzig stehen. Der Psychologe Louis Schützenhöfer schätzt den Anteil an problematischen Mutter-Kind-Beziehungen auf zwischen 40 % und 60 %, andere KollegInnen gehen sogar von einem noch höheren Prozentsatz aus. Wenn also akzeptiert wird, dass viele Frauen keine talentierten oder geeigneten Mütter für ein Kind sind, auch viele der Mutterschaft desinteressierter oder ablehnender gegenüber stehen als sie «dürften», ohne dass die Frauen dann als «degeneriert» oder als «moralisch verworfen», als «unnatürlich» oder «nicht normal» be- und verurteilt würden, dann wäre es für die Mütter auch selbstverständlicher, sich nicht mehr zu verstecken und an Verantwortung für die Kinder abzugeben. Die soziale Kontrolle über das Wohlergehen von Kindern wäre ausgeprägter und in Form einer erweiterten Zuständigkeit und gesellschaftlichen Verantwortlichkeit stärker verankert. Die Not und das psychische Elend vieler Kinder, die jetzt von der Gemeinschaft allein gelassen werden, würde sichtbarer und Alternativen zur Betreuung durch die leibliche Mutter wären im Interesse der Kinder erwünschter und etablierter.
6.2.3 Erweiterte Zuständigkeit
Ein traditionelles afrikanisches Stichwort besagt, dass es ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind aufzuziehen. In diesem Verständnis ist jeder Dorfbewohner, jede Dorfbewohnerin für das Kind zuständig und spielt bei dessen Erziehung eine ganz bestimmte Rolle. Obwohl wir nicht in vergleichbaren Zusammenhängen leben, macht uns das Sprichwort einmal mehr darauf aufmerksam, dass eine langjährige exklusive Betreuung des Kindes durch die leibliche Mutter interkulturell gesehen weder verbreitet ist noch unbedingt als wünschenswert angesehen wird. Seit jedoch bei uns Betreuung und Erziehung hauptsächlich zur Pflicht der Mütter wurde, fühlt sich die Umwelt von dieser (Für-)Sorge entlastet, was, wie angesprochen wurde, einige problematische Folgen mit sich bringt, wie zum Beispiel eine übergroße Abhängigkeit, ein beengtes affektives Klima, die Überforderung der Mutter, die «Fürsorgelücke», in die das Kind einer abwesenden oder wenig fürsorgenden Mutter fällt, das Leid der Abhängigkeit in einer destruktiven Mutter-Kind-Beziehung.
In diesem Sinne scheint es ratsam, verschiedene Formen einer «multiplen Mutterschaft», die nicht auf einer exklusiven Beziehung zwischen Mutter und Kind basieren, verstärkt zu etablieren und zu fördern. Angesprochen sind Partner und Väter, die sich engagieren und zuständig fühlen, soziale Netzwerke und ein Gemeinschaftswesen, das die Mütter selbstverständlich darin unterstützt, Mutter und gleichzeitig «etwas anderes» zu sein. Angesprochen sind aber auch die Mütter selbst, die sich aus verschiedenen Gründen schwer damit tun, «abzugeben». Absicht und Ziel einer erweiterten Verantwortung für das Kind ist es, die berechtigten Bedürfnisse des Kindes nach Zuwendung, Begleitung, Fürsorge, Anregung und Förderung wahrzunehmen und zu berücksichtigen, aber nicht mehr alleine der leiblichen Mutter aufzuladen. Kinder profitieren in diesem Fall über die Mutter, über die Eltern hinaus sehr früh von einer stabilen und fördernden sozialen Gemeinschaft, wie sie sie früher ganz selbstverständlich in der Großfamilie, in der Dorf- oder Straßengemeinschaft fanden. Deshalb wäre die Verbesserung und der
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