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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Allzweck-Pronomens (mein) für so gutwie alle Gebrauchsfälle: Dieses Pronomen ist damit so gut wie unveränderlich, ohne Kasus und gilt für alle drei Geschlechter. Die Kiezdeutsch-Forschung erklärt dieses Phänomen mit den bekannten Verschleifungen und Vereinfachungen, aus denen sich in der Geschichte des Deutschen neue Formen gebildet hätten: dem Mann_ aus dem Mann e ; sag’ ich aus sage ich, meinste aus meinst du , berlinisch wollnwa aus wollen wir etc.
    Dies sind Lautformen der gesprochenen Sprache, wie sie jederzeit und überall vorkommen, und manchmal werden sie zu einem Teil des Sprachsystems wie dem Mann . Die gesprochene Sprache ist zu jeder Zeit voll von abgeschliffenen Formen, weil häufig gebrauchte Wörter immer reduziert werden und die Mündlichkeit ihre eigenen Normen erzeugt: Es ist also gar nichts Besonderes. Das Sprachsystem wird dadurch nicht angetastet.
    Ist es bei Ich frag mei n Schwester auch so? Die Auslöschung von Geschlechtszeichen ist nun etwas, was gar nicht zum Deutschen passt. Denn die Kiezdeutsch-‹Flexion› lautet wahrscheinlich immer nur mein :
    mein Schwester, von mein Schwester, zu mein Schwester, mein Schwester/
    mein Bruder, von mein Bruder, zu mein Bruder, mein Bruder etc.
    Eine Allzweckform für alle Geschlechter, die tief ins Sprachsystem und in etliche Kategorien[ 32 ] eingreifen würde, hat es in der deutschen Sprachgeschichte niemals gegeben. Es gibt, soweit zu sehen, überhaupt keine Parallelen im Deutschen, die man hier auch nur annähernd heranziehen könnte. Welche Anhaltspunkte findet man nun in den Migrantensprachen, die auf das Deutsche hier eingewirkt haben könnten? Die Antwort ist einfach: Wichtige Migrantensprachen drücken mein, dein, unser , also das ‹Possessivum›, auf eine vollkommen abweichende Weise aus, und die ist mit dem Deutschen nicht kompatibel. Es herrscht eine uneuropäische, wenn man so will: eine orientalische Methode vor:
    Das Türkische als agglutinierende Sprache bringt den Besitzer von etwas durch kleine Silben hinten am Wort zum Ausdruck: ev ‹Haus›, ev im ‹mein Haus›, ev imiz ‹unser Haus›. Es gibt gar keine vorangestellten Pronomen wie im Deutschen. Und es gibt natürlich auch keine grammatische Übereinstimmung ( mein en Schwester n ), sondern die Wörter werden ohne Verbindung nebeneinander gestellt: evim güzel ‹mein schönes Haus›.
    Das Arabische kennt auch keine Pronomen, sondern hängt ebenfalls Silben an (hier mit künstlichem Bindestrich): kitāb- Ä« ‹mein Buch›, uḫt- uk ‹deine Schwester›, ismu- hā ‹ihr Name›, bayt- una ‹unser Haus›. Ähnlich ist es im Persischen.
    Unterstützt wird diese Technik des tonlosen Anhängens durch einen mächtigen Balkanfaktor: Besonders die gesprochenen Balkansprachen verfahren nach dem gleichen Prinzip: serbisch kuća mi ‹mein Haus›, griechisch o adelfós tis ‹ihr Bruder›, bulgarisch gradăt ni ‹unsere Stadt›.[ 33 ]
    Die meisten Kiezdeutschsprecher haben also schon in ihren Herkunftssprachen kein Gefühl für Possessivpronomen und auch keines für grammatische Übereinstimmung, wie es für das Deutsche typisch ist. Sprachwissen und Sprechpraxis sind darauf nicht eingestellt. Das Modell mein Schwester ist der typische Pidgin-Output eines nicht handelbaren Sprachen- Clash . Was läge da näher, die Possessivpronomen des Deutschen auf eine Einheitsform herunterzufahren und aus ihr dann das ‹fremde› Kennzeichen eines Jugendslangs zu machen?
    Die zweite orientalische Methode, den Besitz von etwas auszudrücken, ist das reine Nebeneinanderstellen von Besitzer und Besitz (Abschnitt 21).
Der sogenannte ‹Existenzanzeiger› in Migrantensprachen: das Modell gibs Leute
    Nach den Vorstellungen von Wiese (2012) zeigt sich die ‹Kreativität› des Kiezdeutsch darin, dass es ganz neue Kategorien erfindet. Als schlagendes Beispiel wird der sogenannte ‹Existenzanzeiger› vorgeführt: ein unveränderliches Wörtchen, das nur anzeigt, dass etwas da ist. Im Kiezdeutsch heißt es gibs :
    â€“ Das Problem daran ist ja, dass es Realitäten gibs .
    â€“ Gibs gute Gründe.
    â€“ Aber gibs auch ne Abkürzung.
    â€“ Gibs auch Jugendliche, die einfach aus Langeweile viel Mist machen.
    Das Besondere an gibs ist, dass es keine Grammatik hat: Es gibt

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