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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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hab (isch) gesehen; musstu reinmachen etc. hat ihr Standardmuster im Arabischen. Dort ist die Wortfolge VSO das Normale und in jedem beliebigen Durchschnittssatz realisiert. Dies sind die normalen arabischen Sätze:
    faqadtu jamā’atÄ« ‹ Verlor -ich Gruppe-meine› = ‹Ich habe meine Gruppe verloren›
    fatahtu fāṭimah ăl-bāb = ‹ Geöffnet hat Fatima die Tür› = ‹Fatima hat die Tür geöffnet›
    jā’a asad ‹ Ist gekommen Asad› = ‹Asad ist gekommen›
    Für arabische Sprecher ist dies der Normalfall, mündlich wie schriftlich. Einen Einfluss des allgegenwärtigen arabischen Standards rundweg zu leugnen oder gar nicht zu erwähnen, kommt da schon einer kleinen linguistischen Sünde gleich.
    Da Kiezdeutsch immer mündlich realisiert wird, darf man hier neben dem Arabischen, wo der Ausfall im System verankert ist, auch andere Hintergrundsprachen nicht außer Acht lassen, in denen die Wortfolge V SO zwar kein Standardmodell ist, abermündlich häufig vorkommt und dann immer mehr oder weniger emotional ist.
    Russisch: Priechali gosti različnye . ‹Es kamen so verschiedene Gäste.›
    Polnisch: Wyśmiewają się niemcy z polaków . ‹Die Deutschen machen sich doch über die Polen lustig.›
    Auch im Deutschen sind solche Sätze möglich, gelten aber als ‹mündlich› oder als ‹emotional›: ‹ Genossen hab ich die Vorstellung sehr .›
    Schließlich rutscht das Verb in vielen Migrantensprachen oft auch ‹automatisch› an die erste Stelle, wenn es der Satzbau erlaubt und das Subjekt ausfällt (sogenanntes ‹Pro-drop›):
    Bosnisch: _ DoÅ¡ao je oko tri sata . ‹Er ist um drei gekommen.›
    Russisch: _ Govorit tol’ko gluposti . ‹Er redet nur Unsinn.›
    Die Erststellung des Verbs kommt also in so gut wie allen Migrantensprachen vor. Sie scheint so etwas zu sein wie die ‹natürliche› Ordnung mündlicher Mitteilungen.
    Sehen wir uns jetzt den verwandten Typus an:
    â€“ Dann ich muss gehen zu mein Vater.
    Hier steht ein Adverb am Anfang ( dann, später, neulich, niemals, manchmal etc.), das die Satzaussage zeitlich, räumlich oder modal platziert; darum heißt es ‹Rahmensetzer›. Dieser Rahmensetzer steht ‹isoliert› vor dem eigentlichen Satz, dann kommt erst der ‹eigentliche› Hauptsatz ich muss gehen zu mein Vater . Man darf nicht vergessen, dass fast alle Migrantensprachen einfache Sätze nach dem Muster DANNICH MACHE DAS konstruieren, nach dem allgemeinen Rahmensetzer also mit einem normalen Hauptsatz weitermachen, z.B.:
    Bosnisch: Posle toga lekar je joÅ¡ govorio sa bratom ‹Danachder Arzt hat noch gesprochen mit dem Bruder› = ‹Dann hat der Arzt noch mit meinem Bruder gesprochen.›
    Das Modell Dann ich muss gehen realisiert im Munde von Mehrsprachigen nur die Möglichkeiten der Herkunftssprachen, in denen nach dem Rahmensetzer ( dann, später, überhaupt etc.) der eigentliche Hauptsatz folgt. Heraus kommt das Kiezdeutsch-Modell Dannich muss gehen . Das eigentlich Besondere an diesem Muster besteht darin, dass nach dem Rahmensetzer die Wortfolge eines normalen Hauptsatzes folgt, was den syntaktischen Regeln des deutschen Standards widerspricht: ∗ Später ich geh einkaufen .Dieses Modell kann man also mit allem Recht als eine Kopie aus solchen Migrantensprachen interpretieren, in denen diese Wortfolge normal ist.
Einige Bemerkungen zu den Fällen
    Wir können die Besprechung der Kiezdeutsch-Züge nicht verlassen, ohne auf die Kasus wenigstens marginal einzugehen. Von einem einigermaßen überschaubaren Gebrauch der vier deutschen Fälle kann man im Kiezdeutsch nicht sprechen. Dies war schon beim frühen Gastarbeiterdeutsch so, und die Verwurzelung des Kiezdeutsch im Pidgin schlägt hier voll durch. Ja, ein Kasusgebrauch mit korrekten Endungen wie z.B. in mit unseren Plänen wäre so etwas wie eine Ausnahme, ja ein Fauxpas, der gegen ungeschriebene Kiezdeutsch-Regeln verstieße. Das Ignorieren der Kasus mag deshalb ebenfalls so etwas sein wie ein typisches Alleinstellungsmerkmal, das eine scharfe Abgrenzung des Kiezdeutsch von der Standardsprache bewirkt.
    Es dominiert ohne Zweifel eine Art Einheitskasus, der formal dem Nominativ oder dem Akkusativ ähnelt: mit mein Schatz; isch geh an Spiegel; mach isch in Schule .

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