Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
Vom Netzwerk:
betroffen. Türken ‹agglutinieren› hier, Russen ‹flektieren›: Besonders im türkischen Schülerjargon sind Bildungen wie Matheöğretmen ‹Mathelehrer›, schublade-nin ‹der Schublade›, schule-ye ‹in die Schule›, mittlere reife-den ‹von der mittleren Reife›, urlaub-tan sonra ‹nach dem Urlaub›, probezeit-i yapmak ‹die Probezeit ableisten›, Vokabeltest-de ‹im Vokabeltest› keine Seltenheit; russische Aussiedler beugen deutsche Wörter nach Art des Russischen: socialamt-a ‹des Sozialamts›, k doktor-u ‹zum Arzt›, hausmeister-om ‹als Hausmeister› usw.
    Alle Personen mit Migrationshintergrund switchen, aus dem einen oder anderen Grund, auf die eine oder andere Weise, in diesem oder jenem Ausmaß. CS ist mittlerweile eine zentrale Kommunikationsstrategie unter Migranten und Deutschen mit Migrationshintergrund. Wenn man die soziologischen Bedingungen des CS in Deutschland genauer beschreiben will, müsste man zwei Dinge genauer in den Blick nehmen: den Grad der Deutsch-Beherrschung und die ‹Vitalität› (im Sinne Achterbergs: soziale Stärke, Gebrauch und Funktionen) der Migrantensprachen; erst dann kann man die sozialen CS-Funktionen, sagen wir des Türkischen oder Russischen, im einzelnen wirklich ganz genau erfassen. Hinzu kommt noch das Prestige des Deutschen, das der Migrantensprache und schließlich das des Sprachen-Mixings als eines dritten, hybriden Codes.
    Die größte Dimension ist schließlich die sogenannte Code-Alternation: Zwei Sprachen werden im großen Stil miteinander oder nacheinander verwendet. Dieses Abwechseln ganzer Sprachen ist sicher sehr viel weiter verbreitet, als es bis jetzt dokumentiert ist.[ 10 ] Unterscheiden kann man zwei Varianten:
    In der symmetrischen Code-Alternation sprechen zwei mehrsprachige Sprecher erst durchgehend Türkisch miteinander, dann abrupt durchgängig Deutsch.
    In der asymmetrischen Code-Alternation spricht ein Sprecher durchgängig z.B. Russisch, der andere z.B. durchgängig Deutsch – z.B. auf Kongressen.
    Es gibt damit keine natürlichen oder sprachinternen Grenzen des Switching (das war auch nicht zu erwarten); es gibt aber einen Kernbereich, und das ist der Satzrahmen: Hier können sich die grammatischen Metamorphosen am leichtesten abspielen.
Gründe und Ziele des Codeswitching
    Die Forschung zählt gern ausgiebig die Gründe und Motive für CS auf. Geswitcht wird vor allem, wenn es um Institutionen im neuen Land geht: Es ist effektiver, von Betreuungsgeld, Pflegeversicherung oder Bafög zu reden, weil jeder sofort weiß, was genau gemeint ist. Es gibt ein ästhetisches Bedürfnis nach Wortspiel und Variation; CS verbindet und gibt einer Gruppe und ihren Mitgliedern eine unverwechselbare Identität; CS ist ein soziales Zeichen: Es markiert den intimen, familiären, informellen Raum. Auch die technischen Funktionen von CS werden immer genauer beschrieben: Geswitcht wird, um jemanden zu zitieren, um etwas in den Fokus zu rücken (‹Topikalisierung›), wenn ein Landsmann (der kaum Deutsch kann) hinzukommt, um Sprechhandlungen voneinander abzugrenzen, um eine ‹Botschaft› anzubringen, etwas hervorzuheben, zu kommentieren, zu werten, den Gesprächston zu variieren etc. etc. Viele Einführungen ins Codeswitching zählen solche Funktionen minutiös auf, z.B. Goldbach (2005, 78–89) für das Russische. Es kommt aber hier sicher nicht primär auf die Einzelsprache an: Es ist ziemlich sicher, dass man mit CS so gut wie alle kommunikativen Funktionen bedienen kann, nur eben im CS-Modus, vielleicht jeweils mit einer besonderen Attitüde.
    Die neuere Forschung steht dem Switching als einem Phänomen der Mehrsprachigkeit positiv gegenüber und wertet CS, unter dem Dach von Phantasie und kreativer Kompetenz, als Spielfeld für Mehrsprachigkeit, als Strategie kultureller Identitätsfindung und als Produktionsstätte von exotischen Texten. Beschrieben wird auch eine Verteilung nach verschiedenen Anwendungssphären (‹Diglossie›): CS spricht man eher unter Freunden und zuhause, Nicht-CS in Schule, Behörde und Gesellschaft.
    Ãœbereinstimmend gilt CS als Mittel, Identität zu erschaffen: eine unerwünschte soziale Identität zu leugnen, eine neue Identität zu setzen, eine eindeutige Identität zu canceln, eine hybride, vage,

Weitere Kostenlose Bücher