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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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    â€“ Dies ist Zaim, der einen Briefwechsel geführt hat über das Thema.
    5. Migranten fassen brauchen als losen, starren Modalausdruck auf, wie sie es aus ihren Sprachen kennen – und nicht als Vollverb: türkisch lâzem, mecbur , persisch bayad , serbisch treba ‹man muss›, griechisch prépei , albanisch duhet . Da passt es, dass Modalausdrücke im Deutschen keine Personalendung in der 3. Person haben: Es heißt er muss, sie soll und nicht: ∗ er muss t . Also sagt man durchweg er, sie, es brauch nicht zu kommen – ein neuer Modalausdruck, der auch bei deutschen Muttersprachlern schon weit verbreitet ist. (Man frage die Deutschlehrer). Und die endungslose Form brauch _ färbt immer mehr auf das Vollverb brauchen ab. Deshalb hört man im Deutschen immer öfter Sätze vom Typ er brauch_ kein neues Auto .
    6. Immer mehr greift die neue Steigerung mit mehr um sich. Fast alle Migrantensprachen steigern so: türkisch güzel ‹schön›/ daha güzel ‹mehr schön› und treffen sich hier mit dem Englischen oder Italienischen. Und ständig mehren sich deutsche Versprecher, die dieses Modell schon kopieren:
    â€“ Er ist auf diesem Gebiet mehr zuständig als sein Kollege.
    7. Deutsche Mehrfachwörter (‹Komposita›) werden in handliche Einzelteile zerlegt. Wörter wie Spesenkonto, Weinflaschenetikett, Elternsprechtagsversammlung haben bei Migranten ganz schlechte Karten. Sie werden zergliedert, weil das transparenter ist: Immer öfter hört man für Privatleben – privates Leben , für dunkelblau – dunkles Blau , für Elternsprechtag – Sprechtag für die Eltern , für Osterfeiertage – Feiertage an Ostern etc. Fast überflüssig zu sagen, dass bedeutende Migrantensprachen genau diesen Typus bevorzugen, vgl. z.B. bosnisch privatni život für ‹Privatleben›, biro za zapoÅ¡ljavanje für ‹Arbeitsamt›, dan otvorenih vrata za roditelje für ‹Elternsprechtag› etc.[ 7 ]
    Zergliederte Ausdrücke aller Art – ob nun privates Leben für Privatleben, würde schreiben für schriebe oder mehr interessanter für interessanter – sind dem zweisprachigen Milieu besser angepasst.Sie lassen sich besser bilden und verstehen und sind transparent : Die Sprachverarbeitung muss nicht ein ganzes Wortungetüm synthetisieren und dann noch einen kompakten Ausdruck finden und aussprechen. Und sie sind einfacher – und nicht gänzlich falsch. Warum sollten Migranten dieses Angebot nicht nutzen?
    Die grammatischen Interferenzen von Migranten würden ein Buch füllen. Wenn es einmal geschrieben werden sollte, wird sich erweisen, dass viele dieser Übertragungen mit der Zeit Einzug halten in die deutsche Umgangssprache. Noch kaum beachtet wird, dass das auch für Übertragungen der Bedeutung gilt.
ÜBERTRAGUNGEN DER BEDEUTUNG
    Genauso unbestritten, aber viel schwerer zu erkennen ist, dass Migranten auch einen gehörigen Teil ihrer muttersprachlichen Semantik mit in die Fremdsprache und in den fremden Kulturraum hinübernehmen. Etwas anderes wäre ganz seltsam und überhaupt nicht zu erwarten. Gemeint ist, dass Sprecher nicht nur Grammatik, sondern auch Bedeutungen und Redewendungen aus ihrer Herkunftssprache in die Landessprache übertragen, was so etwas ergibt wie einen ‹semantischen Akzent›. Wir haben hier einen weiteren, noch ganz weißen Fleck auf der Landkarte der Migrationslinguistik, weil der Fokus traditionell auf Grammatik liegt – ein altes Manko der Linguistik.
    In der Balkanlinguistik z.B. ist es vollkommen normal und seit langem bekannt, dass Sprachkontakt sich auch im Übertragen von Bedeutungen bemerkbar macht. Im Lexikon von Jan Thomai sind 5000 (!) solcher Übertragungen von identischen Redewendungen und Metaphern zwischen Albanisch, Bulgarisch, Griechisch, Serbisch und Rumänisch verzeichnet. So verwenden alle Balkansprachen zum Beispiel für ‹auf alles gefasst sein› eine gemeinsame übertragene Bedeutung: ins Feuer gehen .
    Vermutlich finden solche Übertragungen massenweise statt; es gibt hier eine gewaltige Dunkelziffer. Wir müssen uns mit drei typischen Beispielen begnügen:
    Eine türkische Freundin sagte mir beim Abschied an der Haustüre oft ‹ich warte dich immer›, und ich habe lange gebraucht, dahinter zu kommen, dass sie einfach die türkische

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