Mummenschanz
viertes Ausrufezeichen fällig wurde.
Der Enrico Basilica auf der Bühne drehte seine Maske hierhin und dorthin. Rechts flüsterte Eimer mit einigen Bühnenarbeitern, links wartete der geheime Klavierspieler André. Neben ihm ragte ein großer Troll auf.
Die dicke rote Sängerin trat in die Bühnenmitte, als das Präludium des Duetts begann. Das Publikum beruhigte sich. Tolles Treiben im Chor mochte ja ganz interessant sein und vielleicht sogar zur Handlung gehören, aber die Zuschauer waren gekommen, um Lieder zu hören. Dafür hatten sie bezahlt.
Agnes starrte ihn an, als sich Christine näherte. Oh, sie konnte sehen, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Sicher, er war dick, auf eine Unters-Hemd-gestopfte-Kissen-Weise, aber er bewegte sich nicht wie Basilica. Enrico Basilica hatte – wie viele fettleibige Männer – den leichtfüßigen Schritt eines schlecht festgebundenen Heißluftballons.
Agnes sah zu Nanny, die ihn ebenfalls beobachtete. Vergeblich hielt sie nach Oma Wetterwachs Ausschau. Das bedeutete vermutlich, daß sie irgendwo in der Nähe war.
Die gespannte Erwartung des Publikums flutete ihnen entgegen. Ohren öffneten sich wie Blütenkelche. Die vierte Wand der Bühne – jene tiefe, saugende Schwärze – wurde zu einem Brunnen des Schweigens, der darum flehte, gefüllt zu werden.
Christine näherte sich unbesorgt. Christine wäre auch in das Maul eines Drachens marschiert, wenn darüber ein Schild mit der Aufschrift »Völlig harmlos, keine Sorge« hing. Ein Schild mit großen, leicht zu lesenden Buchstaben.
Niemand schien irgend etwas unternehmen zu wollen.
Es war ein berühmtes Duett. Und ein wundervolles dazu. Agnes wußte das natürlich. Während der vergangenen Nacht hatte sie es mehrmals gesungen.
Christine griff nach der Hand des falschen Basilica und öffnete den Mund, als die Eröffnungsmelodie erklang…
»Aufhören, jetzt sofort!«
Agnes rief diese drei Worte mit der ganzen Macht ihrer Stimme. Der Kronleuchter klirrte.
Das Orchester hinterließ eine akustische Bremsspur in Form von nervösem Geklimper.
Die Melodie verklang, Echos verstummten – die Show ging nicht mehr weiter.
Walter Plinge saß im Raum unter der Bühne, und der Schein von Kerzen umschmiegte ihn. Seine Hände ruhten im Schoß. Es geschah selten, daß es für Walter Plinge nichts zu tun gab, aber wenn es für ihn nichts zu tun gab, saß er einfach da und tat nichts.
Ihm gefiel es hier unten. Alles war vertraut, und die Geräusche der Oper drangen herab. Sie blieben leise und gedämpft, aber das spielte keine Rolle. Walter kannte alle Wörter, alle Noten, jeden einzelnen Tanzschritt. Er brauchte die Aufführungen wie ein Uhrwerk die Hemmung – sie sorgten dafür, daß er weiterhin hübsch tickte.
Frau Plinge hatte ihm beigebracht, die alten Programmhefte zu lesen. Deshalb wußte er, daß er ein Teil von allem war. Natürlich wäre ihm das auch ohne die Lektüre der Hefte klar gewesen. Schon als Kleinkind hatte er mit dem Hörnerhelm gespielt: Das erste Bett, an das er sich erinnerte, war das Trampolin, daß Dame Gigli beim berühmten Springende-Gigli-Zwischenfall benutzt hatte.
Walter Plinge lebte in der Oper. Er atmete ihre Lieder, malte ihre Kulissen, entzündete ihre Feuer, wischte ihren Boden und putzte ihre Schuhe. Die Oper füllte Stellen in Walter, die andernfalls leer geblieben wären.
Und jetzt hatte die Show aufgehört.
Doch ihre Energie, die pure Kraft der dahinter angestauten Gefühle, das gewaltige Durcheinander aus Schreien, Furcht, Hoffnungen und Sehnsüchten… all dies flog weiter wie der Kutscher einer Kutsche, die gegen ein plötzliches Hindernis geprallt war.
Walter wurde von dem enormen Bewegungsmoment erfaßt wie eine Kaffeetasse von einer Flutwelle.
Es riß ihn vom Stuhl und schleuderte ihn in die alten Requisiten.
Er rutschte herunter, landete zuckend auf dem Boden und preßte sich die Hände auf die Ohren, um nicht der plötzlichen, unnatürlichen Stille lauschen zu müssen.
Jemand trat aus den Schatten.
Oma Wetterwachs wußte nichts von Psychiatrie und hätte auch nichts damit zu tun haben wollen – vor manchen Dingen schreckten selbst Hexen zurück. Sie befaßte sich mit Pschikologie, damit kannte sie sich aus. Es mag den Anschein haben, daß es viele Gemeinsamkeiten zwischen Psychiatern und Pschikologen gibt, aber es existiert ein großer praktischer Unterschied. Wenn ein Psychiater jemanden behandelt, der sich von einem großen, schrecklichen Ungeheuer verfolgt
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