Mummenschanz
forschend in sein Programmheft. Die Ereignisse der ersten beiden Akte hatte er nicht ganz verstanden, aber das war völlig normal. Man mußte schon sehr naiv sein, um außer guten Liedern auch noch eine vernünftige Handlung zu erwarten. Außerdem wurde alles im letzten Akt erklärt, dem Maskenball im Palast des Herzogs. Dabei stellte sich bestimmt heraus, daß die Frau, die einer der Männer so leidenschaftlich umworben hatte, seine eigene Gattin war – eine kleine Maske täuschte so gut über ihre wahre Identität hinweg, daß dem Gemahl weder die vertraute Kleidung noch die bekannte Frisur auffiel. Ein Diener würde sich als verkleidete Tochter eines anderen Protagonisten erweisen, und sicher starb jemand durch etwas, das ihn überraschend umbrachte, obwohl zuvor minutenlang darüber gesungen worden war. Man durfte damit rechnen, daß die Handlung schließlich durch einige Zufälle gerettet wurde, die im wirklichen Leben ebenso wahrscheinlich waren wie ein Hammer aus Pappe.
Dies alles wußte Henry nicht genau. Er stellte nur Vermutungen an.
Unterdessen begann der dritte Akt mit dem traditionellen Ballett. Diesmal war es der Volkstanz der Hausmädchen.
Gelächter erklang.
Henry Gesetzlich hielt nach dem Grund dafür Ausschau und brauchte nicht lange zu suchen. Als er den Blick in Kopfhöhe über die Tänzerinnen gleiten ließ, die Arm in Arm über die Bühne hüpften, bemerkte er eine Lücke. Und als er den Blick dort etwa einen halben Meter weit senkte…
… erreichte er eine kleine, dicke Ballerina, die breit grinste und nicht nur ein sehr straff sitzendes Ballettröckchen trug, sondern auch einen weißen Schlüpfer mit langen Beinen und… Stiefel…
Henry riß die Augen auf. Die Stiefel waren groß und bewegten sich verblüffend schnell vor und zurück. Die aus Satin bestehenden Schuhe der anderen Tänzerinnen funkelten, als sie hin und her schwangen und elegant über die Bühne trippelten. Die Stiefel hingegen klapperten wie ein Steptänzer, der befürchtete, ins Spülbecken zu fallen.
Auch die Pirouetten waren einzigartig. Die übrigen Ballerinas bewegten sich wie Schneeflocken, doch die kleine Dicke wirkte wie ein Kreisel. Während sie sich drehte, versuchten verschiedene Teile ihrer Anatomie, eine Umlaufbahn zu erreichen.
Henry hörte, wie andere Zuschauer miteinander flüsterten.
»O ja«, meinte jemand. »Das haben sie auch in Pseudopolis versucht…«
Seine Mutter stieß ihn an. »Ist das so vorgesehen?«
»Ich… äh… glaube nicht…«
»Ich find’s gut! Ist lustig!«
Die dicke Ballerina stieß mit einem Esel zusammen, der einen Abendanzug trug. Sie griff nach seiner Maske, die sich löste…
Herr Trubelmacher, der Dirigent, erstarrte verblüfft und entsetzt. Nacheinander verstummten die Musikinstrumente des Orchesters, abgesehen von der Tuba…
… um-BAH-um-BAH-um-BAH…
Der Tuba-Spieler hatte die Noten schon vor Jahren gelernt und interessierte sich kaum dafür, was um ihn herum geschah.
Zwei Gestalten erhoben sich direkt vor Herrn Trubelmacher. Eine Hand griff nach dem Taktstock.
»Entschuldige bitte«, sagte André. »Aber die Show muß weitergehen, nicht wahr?« Er reichte den Stock der anderen Gestalt.
»Hier. Und laß nicht zu, daß sie aufhören zu spielen.«
»Ugh!«
Der Bibliothekar schob Herrn Trubelmacher vorsichtig mit einer Hand beiseite, beleckte den Taktstock nachdenklich und sah dann den Tuba-Spieler an.
… um-BAH-um-BAHhhh-um-um…
Der Tuba-Spieler klopfte einem Posaunisten auf die Schulter.
»He, Frank, wo eben noch der alte Trubelmacher stand, steht jetzt ein Affe…«
»Seibloßstillseibloßstillseibloßstill!!«
Der Orang-Utan hob zufrieden die Arme.
Die Musiker sahen auf… und sahen noch etwas höher. Nie zuvor in der Musikgeschichte hatte ein Dirigent so ehrfürchtige Aufmerksamkeit genossen, nicht einmal derjenige, der wegen einer falschen Note zuviel einst die Leber eines Flötenspielers auf einem Becken gebraten hatte, auch nicht der, der drei uneinsichtige Violinisten bestraft hatte, indem er sie mit dem Taktstock aufgespießt hatte. Selbst der Dirigent, der für seine laut ausgesprochenen, wirklich schmerzhaften sarkastischen Kommentare bekannt gewesen war, hatte sich mit weniger Respekt begnügen müssen.
Auf der Bühne nutzte Nanny Ogg die allgemeine Verwirrung, um einem Frosch den Kopf abzunehmen.
»Gnä’ Frau!«
»Entschuldige. Hab dich für jemand anderen gehalten…«
Die langen Arme neigten sich nach unten, und das Orchester
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