Mummenschanz
sich gezwungen, irgendwie auf sie zu reagieren. Es war wie ein Juckreiz, der den Kratzreflex auslöst.
Man achtete nicht auf kleine alte Frauen, die zur allgemeinen Szenerie zu gehören schienen. Und Nanny Ogg gehörte so schnell zur allgemeinen Szenerie wie ein totes Huhn in einer Madenfabrik.
Abgesehen davon hatte sie noch ein anderes Talent: einen Verstand, der wie eine Kreissäge hinter einem Gesicht arbeitete, das wie ein verschrumpelter Apfel aussah.
Jemand schluchzte.
Eine seltsame Gestalt kniete neben dem verstorbenen Chorleiter. Sie wirkte wie eine Marionette mit durchtrennten Schnüren.
»Hilfst du mir mit dem Tuch?« fragte Nanny leise.
Das Gesicht wandte sich ihr zu. Tränen strömten aus zwei wäßrigen Augen, die kurz blinzelten. »Er wacht nicht auf!«
Nanny schaltete innerlich um. »Das stimmt, Junge«, sagte sie. »Du bist Walter, nicht wahr?«
»Er war immer gut zu mir und meiner Mama! Er hat mich nie getreten!«
Nanny begriff, daß sie hier nicht helfen konnte. Sie ging in die Hocke und widmete sich so gut es ging dem Verblichenen.
»Gnä’ Frau es heißt der Geist sei es gewesen Gnä’ Frau! Aber den Geist trifft keine Schuld Gnä’ Frau! So etwas würde er nie tun! Er war immer gut zu mir und meiner Mama!«
Nanny schaltete erneut um. Für Walter mußte man ein wenig langsamer werden.
»Meine Mama wüßte jetzt worauf es ankommt!«
»Ja… nun, sie ist früh nach Hause gegangen, Walter.«
Das wächserne Gesicht des jungen Mannes mutierte zu einer Fratze des Entsetzens.
»Sie darf nicht nach Hause gehen ohne daß Walter sie beschützt!« rief er.
»Das hat sie bestimmt oft betont«, entgegnete Nanny. »Sicher läßt sie sich immer von Walter begleiten, wenn sie heimkehrt. Aber derzeit wäre sie froh, wenn er die Arbeit fortsetzt, damit sie stolz auf ihn sein kann. Die Show muß weitergehen.«
»Es ist gefährlich für meine Mama!«
Nanny tätschelte ihm den Kopf und wischte sich die Hand am Kleid ab.
»Sei ein guter Junge«, sagte sie. »Ich muß jetzt fort und…«
»Der Geist tut niemandem etwas zuleide!«
»Ja, Walter, ich muß jetzt gehen, aber ich schicke jemanden, der dir hilft, und du sollst den armen Dr. Unterschaft an einem sicheren Ort unterbringen, bis die Show zu Ende ist. Verstanden? Und ich bin Frau Ogg.« Walter starrte sie groß an und nickte kurz.
»Braver Junge.«
Nanny erhob sich und ging; zurück blieb ein Walter Plinge, der noch immer auf die Leiche des Chorleiters starrte. Sie stieß tiefer in die Welt hinter der Bühne vor.
Ein junger Mann wollte an ihr vorbeieilen und stellte fest, daß plötzlich eine Klette namens Ogg an ihm hing.
»Entschuldigung«, sagte Nanny und hielt ihn am Arm fest. »Kennst du vielleicht eine junge Frau namens Agnes? Agnes Nitt?«
»Höre den Namen zum erstenmal. Arbeitet sie hier im Opernhaus?« Der junge Mann versuchte möglichst höflich, den Weg fortzusetzen, aber Nannys Finger blieben um seinen Arm geschlossen.
»Sie singt. Ist ziemlich dick. Hat eine sehr eindrucksvolle Stimme. Bevorzugt schwarze Kleidung.«
»Meinst du vielleicht Perdita?«
»Perdita? Oh, ja. Das dürfte sie sein.«
»Ich glaube, sie kümmert sich um Christine. Sie sind in Herrn Salzellas Büro.«
»Christine? Ist das die junge Dame in Weiß?«
»Ja.«
»Und jetzt zeigst du mir sicher, wo sich Herr Salzellas Büro befindet, nicht wahr?«
»Äh… ich… äh… ja. An der Bühne vorbei und dann die erste Tür auf der rechten Seite.«
»Wirklich nett von dir, einer alten Frau so bereitwillig zu Diensten zu sein.« Nanny lockerte den Griff ein wenig. »Und wäre es nicht eine wundervolle Idee, dem jungen Walter dort drüben auf respektvolle Weise bei dem Toten zu helfen?«
»Drüben wo?«
Nanny drehte sich um. Dr. Unterschaft lag noch immer an Ort und Stelle, doch von Walter war nichts mehr zu sehen.
»Kein Wunder, der arme Kerl ist völlig durcheinander«, murmelte Nanny. »Hätte damit rechnen sollen.« Und lauter: »Nun, was hältst du davon, wenn du dir von einem anderen kräftigen jungen Mann helfen läßt?«
»Äh… ja.«
»Braver Junge«, sagte Nanny Ogg.
Es war noch recht früh am Abend. Oma Wetterwachs und Frau Plinge wanderten durch die Straßen von Ankh-Morpork und näherten sich den Schatten, einem Viertel, das wie eine Jauchegrube duftete und in dem Ruf stand, ebenso sauber zu sein.
»So…«, sagte Oma, als sie das Wirrwarr aus stinkenden Gassen erreichten. »Für gewöhnlich begleitet dich dein Sohn Walter nach
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