Mummenschanz
Hause, stimmt’s?«
»Er ist ein guter Junge, Frau Wetterwachs«, erwiderte Frau Plinge, die sich sofort in die Defensive gedrängt fühlte.
»Bestimmt bist du sehr dankbar, daß du auf die Hilfe eines starken Jungen zurückgreifen kannst«, meinte Oma.
Frau Plinge hob den Kopf. Oma Wetterwachs’ Augen wirkten wie ein Spiegel: Man sah darin sich selbst – und man konnte den Bildern nicht entkommen.
»Sie quälen ihn so«, murmelte Frau Plinge. »Sie stoßen ihn hin und her, verstecken seinen Besen. Die anderen Leute sind nicht böse, nein, nicht in dem Sinne, aber sie quälen meinen Walter.«
»Er nimmt den Besen mit nach Hause, nicht wahr?«
»Er kümmert sich um seine Sachen«, sagte Frau Plinge. »Ich habe ihn dazu erzogen, sich um seine Sachen zu kümmern und niemandem zur Last zu fallen. Aber sie quälen und beschimpfen ihn…«
Die Gasse führte zu einem Hof, der zwischen den hohen Gebäuden wie der Grund eines tiefen Schachtes wirkte. Wäscheleinen bildeten ein komplexes Zickzackmuster vor dem dunklen Sternenhimmel.
»Hier wohne ich«, sagte Frau Plinge. »Vielen Dank, daß du mich begleitet hast.«
»Wie kehrt Walter ohne dich heim?« fragte Oma.
»Oh, es gibt Möglichkeiten, im Opernhaus zu schlafen. Er weiß, daß er dort übernachten soll, wenn ich ihn nicht abhole. Walter ist sehr gehorsam, Frau Wetterwachs. Er fällt niemandem zur Last.«
»Das habe ich auch nicht behauptet.«
Frau Plinge kramte in ihrer Handtasche. Sie suchte nach dem Hausschlüssel – und nutzte die Gelegenheit, Omas Blick zu meiden.
»Sicher weiß Walter über die Vorgänge in der Oper gut Bescheid«, sagte Oma und schloß die Hand um Frau Plinges Unterarm. »Ich frage mich, was er wohl… gesehen hat.«
Der Puls von Walters Mutter machte einen jähen Satz – das galt auch für die Diebe. Schatten entfalteten sich. Metall kratzte.
»Ihr seid zwei«, erklang eine leise Stimme. »Und wir sind sechs. Schreien hat keinen Sinn.«
»Ach du liebe Zeit«, sagte Oma Wetterwachs.
Frau Plinge sank auf die Knie. »Oh, bitte, tut uns nichts, ihr Herren, wir sind zwei hilflose alte Frauen! Habt ihr keine Mütter?«
Oma rollte mit den Augen. Verdammt und zugenäht! Sie war eine gute Hexe. Das war ihre Rolle im Leben. Diese Bürde mußte sie tragen. Gut und Böse verloren an Bedeutung, wenn man mit einem ausgeprägten Sinn für Richtig und Falsch aufwuchs. Was die Diebe betraf… Oma hoffte inständig, daß sie trotz ihrer Jugend eingefleischte Verbrecher waren.
»Ich hatte mal ‘ne Mutter«, sagte einer der Diebe. »Muß sie irgendwann verspeist haben…«
Ausgezeichnet. Diesen Burschen lag das Kriminelle im Blut. Oma hob beide Hände zum Hut, um zwei lange Haarnadeln herauszuziehen…
Ein Dachziegel fiel und zerschellte auf dem Boden.
Sie sahen nach oben.
Im Mondschein zeichnete sich kurz eine Gestalt in einem Umhang ab. Sie zog ein Schwert, sprang herab und landete vor den verblüfften Dieben.
Die Klinge zuckte.
Der erste Dieb holte aus und stieß mit seinem Messer nach dem Schemen vor ihm, der sich als ein anderer Dieb erwies, dessen Arm nach oben schwang, wodurch sein Dolch über den Brustkasten des nächsten Diebs schnitt…
Der Maskierte tanzte in der Gruppe, sein Schwert hinterließ einen glühenden Schweif in der Luft. Später gelangte Oma Wetterwachs zu dem Schluß, daß es keine Körper berührt hatte, was auch nicht nötig war. Wenn sechs Amateure im Dunkeln gegen einen einzelnen Gegner antreten und wenn sie nicht an ein Ziel gewöhnt sind, das schwerer zu treffen ist als eine Wespe, und wenn sie den Messerkampf von anderen Amateuren gelernt haben… dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie die eigenen Freunde erstechen. Hinzu kommt eine Chance von zwölf zu eins, daß sie sich selbst ein Ohrläppchen abschneiden.
Die beiden nach zehn Sekunden noch unverletzten Diebe wechselten einen kurzen Blick, drehten sich um und liefen davon.
Und dann war alles vorbei.
Die einzige noch vertikale Gestalt verneigte sich vor Oma Wetterwachs. »Ah. Bella Donna!«
Schwarzer Umhang und rote Seide wirbelten, um dann ebenfalls zu verschwinden. Einige Sekunden hörte man noch das leise Pochen rascher Schritte auf dem Kopfsteinpflaster.
Omas Hände waren noch immer halb zum Hut erhoben.
»Nein, so was!«
Sie senkte den Blick. Mehrere Körper stöhnten und gaben blubbernde Geräusche von sich.
»Ich schätze, wir brauchen heißes Wasser, Verbände und eine gute Nadel, um die Wunden zu nähen, Frau Plinge«,
Weitere Kostenlose Bücher