Mummenschanz
sagte Oma. »Wir können diese armen Männer doch nicht verbluten lassen, auch wenn sie versucht haben, zwei hilflose alte Frauen auszurauben…«
In Frau Plinges Augen flackerte Entsetzen.
»Wir müssen gütig sein«, beharrte Oma Wetterwachs.
»Ich schüre das Feuer und zerreiße ein Laken«, sagte Frau Plinge. »Aber ob ich eine Nadel auftreiben kann…«
»Oh, kein Problem.« Oma zog eine aus der Krempe ihres Huts.
Sie kniete sich neben einen Dieb. »Dieses Ding ist rostig und ziemlich stumpf, aber wir müssen uns damit begnügen.«
Die Nadel glänzte im Licht des Mondes. Der Dieb richtete einen furchterfüllten Blick darauf und sah dann in Omas Gesicht. Er wimmerte und versuchte, sich mit den Schulterblättern in den Boden zu graben.
Vielleicht war es gut so, daß im Dunkeln niemand sonst Omas Gesicht sehen konnte.
»Laß uns etwas Gutes tun«, sagte sie.
Salzella hob die Arme und gestikulierte. »Und wenn die Leiche mitten im Akt heruntergekommen wäre?«
»Na schön, na schön «, erwiderte Eimer. Er saß hinter seinem Schreibtisch und schien darin eine Art Bunker zu sehen, der im Notfall Schutz gewährte. »Einverstanden. Nach der Vorstellung rufen wir die Wache. Meinetwegen. Aber wir bitten sie, diskret zu sein.«
»Diskret?« wiederholte Salzella. »Bist du schon mal jemandem von der Wache begegnet?«
»Ich bin sicher, daß die Burschen überhaupt nichts finden. Der Mörder ist sicher längst geflohen, übers Dach oder was weiß ich; wer auch immer er sein mag. Armer Dr. Unterschaft. Beim Chor hielt er die Fäden immer fest in der Hand.«
»Diesmal hat sie ihm jemand um den Hals gewickelt«, kommentierte Salzella.
»Das war geschmacklos!«
Der Musikdirektor beugte sich vor. »Ob geschmacklos oder nicht: Theaterleute sind abergläubisch. Eine kleine Sache wie ein Mord auf der Bühne – und schon verlieren sie die Nerven.«
»Dr. Unterschaft wurde nicht auf der Bühne ermordet, sondern abseits davon. Außerdem können wir nicht sicher sein, daß es wirklich ein Mord war. Er soll in letzter Zeit sehr… deprimiert gewesen sein.«
Agnes hatte einen Schock erlitten, der jedoch nicht direkt Dr. Unterschafts Tod betraf, sondern ihre eigenen Reaktionen. Es war alles andere als angenehm gewesen, die Leiche zu sehen, aber als noch schlimmer empfand sie das Interesse, das plötzlich in ihr erwacht war; ein Interesse an den Ereignissen, dem Verhalten der Leute, ihrer Körpersprache und ihren Worten. Sie beobachtete und schien dabei außerhalb des Geschehens zu stehen.
Christine klappte im Gegensatz zu ihr einfach zusammen. Ebenso Dame Timpani. Doch es kümmerten sich mehr Leute um Christine als um die Primadonna – obwohl Dame Timpani nach ihrem ersten Erwachen noch weitere Male demonstrativ in Ohnmacht fiel, bis ihr schließlich nur noch ein hysterischer Anfall blieb.
Natürlich gingen alle davon aus, daß Agnes die Ruhe bewahrte.
Man hatte Christine in Salzellas Büro getragen und sie dort auf die Couch gelegt. Agnes holte eine Schüssel Wasser und ein Tuch, um ihr die Stirn abzuwischen. Manche Menschen sind dazu bestimmt, zu einer bequemen Couch getragen zu werden, während andere sich damit begnügen müssen, kaltes Wasser zu holen.
»In zwei Minuten geht der Vorhang wieder auf«, sagte Salzella. »Ich sollte besser das Orchester zusammentrommeln. Bestimmt sitzen alle im Dolch-in-den-Rücken auf der anderen Straßenseite. Die Brüder haben schon einen halben Krug Bier getrunken, bevor der Applaus ganz verhallt ist.«
»Sind sie imstande, richtig zu spielen?«
»Dazu sind sie nie imstande gewesen, und ich sehe nicht ein, warum sich das jetzt ändern sollte«, erwiderte Salzella. »Es sind Musiker, Eimer. Eine Leiche würde sie nur dann beunruhigen, wenn sie ihnen ins Bier fiele. Und selbst dann würden sie spielen, wenn man ihnen verspricht, nachher eine Runde für sie auszugeben.«
Eimer trat an die immer noch liegende Christine heran. »Wie geht es ihr?«
»Sie hat hin und wieder gemurmelt…«, begann Agnes.
»Eine Tasse Tee? Möchte jemand eine Tasse Tee? Nichts ist schöner als eine Tasse Tee, nein, das stimmt nicht ganz, aber die Couch ist derzeit besetzt, nur ein kleiner Scherz, nichts für ungut, möchte jemand eine Tasse Tee?«
Agnes sah sich entsetzt um.
»Nun, ich könnte eine vertragen«, sagte Eimer mit falscher Fröhlichkeit.
»Wie steht’s mit dir, Teuerste?« Nanny zwinkerte Agnes zu.
»Äh… nein danke«, sagte Agnes. »Du arbeitest hier?«
»Ich helfe Frau
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