Mummenschanz
Plinge, der Armen, für sie ist dies alles ein wenig zuviel gewesen«, entgegnete Nanny und zwinkerte erneut. »Ich bin Frau Ogg. Laß dich von mir nicht stören.«
Eimer nickte zufrieden. Zufällig eintreffende Teeverteilerinnen schienen derzeit keine große Gefahr darzustellen.
»Heute sieht’s dort draußen nicht so sehr nach Oper aus, eher nach Grand Guignol«, behauptete Nanny. Sie stieß Eimer an. »Das kommt aus dem Fremdländischen und bedeutet soviel wie Blut überall auf der Bühne«, fügte sie hinzu.
»Tatsächlich?«
»Ja. Man könnte es auch mit… ›Große Gignol‹ übersetzen.«
In der Ferne begann Musik.
»Das war die Ouvertüre des zweiten Akts«, sagte Eimer. »Nun, wenn sich Christine noch immer nicht erholt hat…« Er richtete einen verzweifelten Blick auf Agnes. Unter den gegebenen Umständen hatte das Publikum sicher Verständnis.
Stolz ließ Agnes’ Brust noch weiter anschwellen. »Ja, Herr Eimer?«
»Vielleicht finden wir ein weißes Kleid für…«
Christines Augen blieben geschlossen, als sie die Hand zur Stirn hob und stöhnte.
»Oh, was ist denn geschehen?«
Eimer kniete sofort neben ihr. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du hast einen üblen Schock erlitten! Glaubst du, daß du trotzdem auftreten kannst, um der Kunst willen? Und um zu vermeiden, daß die Leute ihr Geld zurückverlangen?«
Christine lächelte tapfer. Obgleich das überhaupt nicht nötig war, fand Agnes.
»Ich darf das Publikum nicht enttäuschen!« sagte sie.
» Aus gezeichnet!« freute sich Eimer. »Dann schnell zur Bühne. Perdita wird dir helfen. Nicht wahr, Perdita?«
»Ja, natürlich.«
»Und du singst im Chor mit«, fügte Eimer hinzu. »Ganz in der Nähe .«
Agnes seufzte. »Ja, ich weiß. Komm, Christine.«
»Liebe Perdita…«, seufzte Christine.
Nanny sah ihnen nach. »Ich nehme die Tasse mit, wenn du damit fertig bist.«
»Oh«, sagte Eimer. »Ja, herzlichen Dank dafür.«
»Äh…«, fuhr Nanny fort. »Oben bei den Logen gab es einen Zwischenfall.«
Eimer schnitt eine Grimasse. »Wie viele Personen sind gestorben?«
»Oh, niemand, nicht eine einzige. Sie sind ein wenig naß geworden, weil ich etwas Sekt verschüttet habe.«
Emil Eimer atmete erleichtert auf. »Oh, darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen.«
»Nun, mit verschüttet meine ich… äh… ich meine, das Verschütten dauerte eine ganze Weile…«
Der Eigentümer des Opernhauses winkte ab. »Sekt hinterläßt keine Flecken im Teppich.«
»Und an der Decke?«
»Frau…?«
»Ogg.«
»Bitte geh jetzt.«
Nanny nickte, sammelte die Teetassen ein und verließ das Büro. Wenn eine alte Frau, die Tee servierte, keinen Verdacht erregte, dann galt das sicher auch für eine, die den Abwasch erledigte. Abwaschen kam praktisch einem Abzeichen für die Mitgliedschaft in irgendeiner Gilde gleich.
Doch soweit es Nanny Ogg betraf, stellte das Abwaschen etwas dar, das anderen Leuten zustieß. Aber in der aktuellen Situation hielt sie es für angebracht, ihrer Rolle gerecht zu werden. Deshalb suchte sie eine Nische mit einem Waschbecken, krempelte dort die Ärmel hoch und machte sich ans Werk.
Jemand klopfte ihr auf die Schulter.
»Das solltest du besser lassen«, sagte eine Stimme. »Es bringt großes Unglück.«
Nanny sah sich zu einem Bühnenarbeiter um.
»Was? Wer abwäscht, bringt sieben Jahre Pech?«
»Ich meine das Pfeifen.«
»Ich pfeife immer, wenn ich nicht denke.«
»Auf der Bühne solltest du das besser lassen.«
»Weil es Unglück bringt?«
»Ja. Wir benutzen Pfeifcodes, wenn wir die Kulissen hin und her schieben. Wenn einem ein Sandsack auf den Kopf fällt, könnte man das als Unglück bezeichnen, schätze ich.«
Nanny sah nach oben, und der Bühnenarbeiter folgte ihrem Blick. In der Nische war die Decke nur etwa sechzig Zentimeter entfernt.
»Es ist einfach sicherer, nicht zu pfeifen«, sagte der junge Mann.
»Ich verspreche dir, es nicht zu vergessen«, erwiderte Nanny. »Kein Pfeifen auf der Bühne. Interessant. Man lernt nie aus.«
Der Vorhang ging auf, und der zweite Akt begann. Nanny sah von den Kulissen aus zu.
Schon nach kurzer Zeit fiel ihr auf, daß die Darsteller mindestens eine Hand über die Höhe des eigenen Halses hinaus hoben, um bei Zwischenfällen gewappnet zu sein. Diesmal gab es weitaus mehr Grüße und dramatische Gesten, als es die Oper eigentlich erforderte.
Nanny beobachtete das Duett zwischen Jod und Bufola. Beide fielen dadurch auf, daß sie immer wieder
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