Munzinger Pascha
Hauptzentralpunkt. Das hatte ich doch schon immer vermutet. Und was sonst? 8200 Einwohner in 850 Häusern (1904), neues Schulhaus, neues Theater, neues Spital, allerlei neue Fabriken, ein eigenes Elektrizitätswerk, Stadtbibliothek mit 15 000 Büchern, prächtiger Bahnhof, prächtige Naturlandschaft ringsum, prächtige Geschichte, zurückzuverfolgen bis in die Römerzeit . . . und so weiter. Ich wunderte mich nicht mehr, daß wir so lange schweigend Rücken an Rücken gesessen hatten, das Lexikon und ich. Wir hatten einander nichts zu sagen. Ich wollte es eben zuklappen und zurück ins Regal stellen, als mir im letzten Moment eine irritierende Buchstabenfolge |21| ins Auge stach. Ich zoomte die Druckbuchstaben heran. Hier stand eine Schulklasse voller kreuzbraver lateinischer Buchstaben, zu nichts anderem nutze als zum Auffüllen der leeren Seiten in einem geographischen Lexikon. Weshalb also irritierten mich die kleinen Langweiler? Ich ging sie nochmals durch, und dann sah ich es: Das hier war kein gewöhnliches Klassenfoto, die lateinischen Langweiler paßten nicht zueinander.
Aus Olten sind viele bekannte und verdiente Persönlichkeiten hervorgegangen: (. . .) WERNER MUNZINGER PASCHA (1832 – 1875), Generalgouverneur der ägyptischen Provinzen am Roten Meer und des östl. Sudans, Afrikareisender und Sprachforscher.
Olten war also nicht nur ein Hauptzentralpunkt, sondern auch Geburtsort eines großen Abenteurers. In denselben engen Gassen wie der Ständeratskandidat Zingg und ich hatte der berühmte Werner Munzinger Pascha seine ersten Schritte getan. Wie wurde man Generalgouverneur der ägyptischen Provinzen am Roten Meer und des östlichen Sudans? Und ich? Warum hatte ich bis heute nichts gewußt von diesem Munzinger Pascha? Warum sagte mir keiner was? Mir, dem Lokalreporter? Ich stand auf und ging mit dem Lexikon hinüber ins Büro des Chefredakteurs.
Auf dem Mahagonipult drehte eine grüne Lokomotive des Typs Ae 3 / 6 einsam und gemächlich ihre Runden. Ich folgte dem Lauf der Schienen; der Chef hatte wieder einmal eine raffinierte Linienführung gefunden. |22| Sein Ehrgeiz bestand jeweils darin, beim Streckenbau nichts zu verrücken: Die Schreibmaschine mußte am gewohnten Ort stehenbleiben, das Bild der Ehefrau auch, der Rosenquarz, die Aktenstöße, die zwei Telefonapparate ebenfalls. Wirklich gelungen, die Linienführung, besonders die kleine Brücke über die Computer-Tastatur hinweg. Aber wo war der Chef?
»Wo ist denn nur . . . verdammt . . . ich hab sie doch . . .« Hohl drang Trümpys Stimme aus einem Aktenschrank hinter der Tür.
»Chef?«
»Wo zum Teufel ist die Ae 4 / 7?« Er tauchte aus der Tiefe des Schranks auf und sah mich drohend an. Ich erinnerte ihn daran, daß wir die Lok nach dem letzten Redaktionsapéro in die Reparatur hatten schicken müssen; sie war in einer Linkskurve entgleist und gegen den Heizkörper geknallt, als der Chef einen neuen Geschwindigkeitsrekord versuchte.
»Ach ja!« Er ging zurück zu seinem Pult und drehte am Transformator, worauf die Ae 3 / 6 doppelt so schnell zwischen Rosenquarz, Ehefrau und Aktenstößen herumkurvte. »Kommst du voran mit deinem Portrait?«
»Es geht. Sagt dir der Name Werner Munzinger Pascha etwas?«
»Der Afrikaforscher? Natürlich. War der Sohn des Bundespräsidenten Josef Munzinger, des Gründervaters von 1848. Ist nach Ägypten abgehauen, als sein Vater in die Regierung kam. Wollte wohl Pharao werden, um den Alten zu übertrumpfen, hehe!«
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17. November 1848, kurz vor Mittag. Dicke Nebelschwaden ziehen über die Aare. Das ist nichts Ungewöhnliches für die Jahreszeit, aber die Möwen mögen den Nebel nicht; beleidigt bleiben sie auf dem Dachfirst der Holzbrücke sitzen, die vom Zollhaus ins Städtchen führt. Ein Hauptzentralpunkt ist Olten damals noch nicht, denn es gibt keine Eisenbahn weit und breit. Olten ist in jenem Herbst ein muffiges Kaff mit tausendfünfhundert Einwohnern, die sich ängstlich hinter dicken, mittelalterlichen Stadtmauern verbergen. Und wo später Spitäler und Fabriken stehen werden, dampfen Kuhweiden und frisch gepflügte Kartoffeläcker in der fahlen Morgensonne.
Ein paar hundert Meter flußaufwärts sitzt ein schmächtiger Jüngling von sechzehn Jahren auf einem Fels und wirft Steinchen ins Wasser. Da und dort ragen verrottete, algenbedeckte Holzbalken aus dem Fluß. Die Goldsucher! Wenn nur die Goldsucher noch hier wären! Der Jüngling streicht
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