Munzinger Pascha
»Nichts auf der Welt nervt mich so sehr wie reißende Einkaufstaschen.«
Daß Ingrid mich als ihren Lieben bezeichnete, war ebenfalls ein schlechtes Zeichen. Früher wäre es uns nie eingefallen, einander Kosenamen zu geben. Und über jene Paare, die einander in aller Öffentlichkeit |31| »Schatz!«, »Liebling!« oder »Maus!« zubrüllten, hatten wir uns immer lustig gemacht.
Ich packte die Einkäufe aus: Eier, Butter, Kaffee, Joghurt, Joghurt, Milch, Milch und nochmals Milch, Karotten, Weißbrot . . .
»Wieso Weißbrot?« fragte Ingrid.
»Was, wieso Weißbrot?«
»Weißbrot ist schlecht.«
»Jaja.«
»Es hat keine Nährstoffe, ist schlecht für die Zähne, liegt schwer im Magen . . .«
»Ich mag’s.«
»Soso. Du magst Weißbrot, und alles andere ist dir egal.« Ingrids Stimme wurde höher und gepreßter. Die weibliche Kampfstimme. »Du kaufst nicht für dich allein ein, mein Lieber.«
»Ich weiß das. Ich habe seit zwei Jahren nichts mehr für mich allein eingekauft.«
Ingrid fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs blonde Haar und schenkte sich Wein nach. Wie schön sie war.
»So geht das nicht. Wir sollten uns einig werden. Weißbrot ist nun mal . . .«
»Schon gut. Ab sofort kaufe ich Vollkornbrot. In Papiertaschen.«
»Nein, so nicht!«
»Die Milch ist aber in Ordnung, ja? Vollmilch. Und die Karotten sind Bio.«
»Dein billiger Sarkasmus ist hier wirklich . . .«
»Wir streiten um Weißbrot, um Himmels willen!«
»Max, du bist . . . was schaust du mich so an?«
». . .«
|32| »Was grinst du so dämlich?«
»Ich rechne. Sind wir schon wieder soweit?«
»Wie weit?«
»Ist es wirklich schon achtundzwanzig Tage her, daß du das Telefon auf die Straße geworfen hast? Durch das geschlossene Fenster?«
Ingrid erstarrte. Für die Dauer von zwei oder drei Herzschlägen starrte sie mich an mit ihren Husky-Augen – dann schnellte sie hoch, flink wie ein Reptil, und schüttete mir ihren Wein ins Gesicht, und in der gleichen Sekunde, bevor ich den ersten Gedanken fassen konnte, versetzte meine Hand ihr eine Ohrfeige. Von da habe ich alles in Erinnerung, als ob es in Zeitlupe geschehen wäre: Wie Ingrid erstaunt die Augen aufriß und die Hand an die Wange hielt; wie sie in nachträglichem Schrecken zurückwich, den Boden unter den Füßen verlor, strampelte und eine absurd lange Sekunde in der Luft hing, bevor die Schwerkraft wieder Besitz von ihr ergriff; und wie sie auf dem Weg nach unten auf der Oberkante des Kühlschranks aufschlug, und zwar mit dem Nacken.
Ingrid blieb auf dem kalten Fliesenboden liegen. Der Wein tropfte mir aus den Haaren und machte violette Flecken auf meinem weißen Hemd. Sie stand nicht wieder auf. Einen Moment glitzerte es in ihren Augen, dann stöhnte sie und griff sich an den Nacken. »Autsch. Das tut weh.« In Panik bettete ich sie mit Kissen und Decken auf den Küchenboden, befahl ihr, still liegenzubleiben, und rief die Ambulanz.
Ingrid hatte einen Halswirbel gebrochen. Angerissen. Von der Fahrt ins Krankenhaus will ich schweigen, von den tausend Fragen zum Unfallhergang in |33| der Notaufnahme auch, von der angstvollen Nacht in einem neonbeleuchteten Aufenthaltsraum mit unserem schlafenden Sohn im Arm ebenfalls und von den vorwurfsvollen Blicken der Ärzte und Krankenschwestern erst recht. In den folgenden zwei Wochen verbrachte ich jede freie Minute im Krankenhaus. Ich weinte, brachte Geschenke, bat um Vergebung und vollzog alle Rituale, die uns ein weiteres Zusammenleben hätten ermöglichen sollen. Am Tag aber, an dem Ingrid mit jenem anklagend weißen Halskorsett nach Hause entlassen wurde, war es vorbei. Für dieses Korsett gab es keine Entschuldigung und kein Verzeihen.
Ich raffte mein Zingg-Dossier zusammen und ging nach Hause. Ingrid lieferte den Kleinen pünktlich um halb sieben Uhr an meiner Haustür ab. Ich kochte ihm seine Leibspeise, Spaghetti mit Apfelkompott aus der Dose. Dann putzten wir die Zähne und gingen zu Bett. Binnen zwei Minuten war er eingeschlafen. Ich ging hinüber an meinen Schreibtisch. Hundertachtzig Zeilen. Wenn ich erst den Anfang habe, läuft alles wie geschmiert. Wie eilig es Ingrid hatte, als sie den Kleinen brachte. Zum Glück schläft er schon, dann kann ich in Ruhe arbeiten. Der Anfang ist nun mal das Schwerste. Heute abend schreibe ich nur den Anfang, für den Rest habe ich morgen noch Zeit. Womit steige ich ein? Mit einer Beschreibung der Bauernküche? Kitsch. Mit der mehlbestäubten Frau und den blondgezopften
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