Munzinger Pascha
kapitulieren oder mit ihm in den letzten Kampf zu gehen – worauf einige bei ihm bleiben, tausende aber in Einerkolonne den Berg hinuntersteigen und Napier die Waffen zu Füssen legen. Stunden später läßt Theodoros tausendfünfhundert Rinder von Magdala hinunter zu den Briten treiben – eine letzte, vergebliche Geste der Versöhnung. Dann legt die modernste Artillerie der Welt die mittelalterliche Festung Magdala in Schutt und Asche. Verzweifelt wehrt sich Theodoros mit den hundert Getreuen, die ihm geblieben sind. Aber unter der Kanonade stürzen die Festungsmauern ein, und die ersten von viertausend britischen Soldaten stürmen die rauchende Ruine. Kurz vor der Gefangennahme steckt sich Theodoros den Revolver in den Mund, den Queen Victoria ihm vor vier Jahren geschenkt hat.
Die zwanzigtausend Frauen und Kinder läßt Napier ziehen, einem ungewissen, schweren Schicksal entgegen. Dann gibt er Befehl zum Rückzug.
Ende Juni 1868 geht in der Zula-Bucht der letzte britische Soldat an Bord, und die Invasionsarmee fährt zurück nach Indien. Fürst Kassai von Tigre hat für die Gewährung des Durchmarschs zwölf Kanonen, 725 Musketen und reichlich Munition als Geschenk erhalten; damit erobert er den verwaisten Kaiserthron und nennt sich fortan Johannes IV.
Werner ist zurück in Massaua. Von seinem Lohn als Expeditionsführer begleicht er Schulden; was übrigbleibt, reicht nicht für eine Weiterreise nach Europa.
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Bern, 20. März 1870
Lieber Werner!
Ich möchte Dir manches sagen, aber dann habe ich doch nur eines zu sagen: Meine geliebte, meine teure Marie ist tot. Hättest Du sie gekannt wie ich, so würdest Du verstehen, daß ich jetzt nicht besser bin als ein elender vom Blitz getroffener Baumstrunk, an dem kein Blättchen und kein Zweig mehr grünen will. Es ist ödes, düsteres Nachtdunkel um mich her, und wenn man auch eine Kerze anzündet, so weicht doch das Dunkel ringsum nicht.
Heute sind mir den ganzen Tag Blumen und Kränze zugekommen von allen, die Marie liebhatten; morgen werden sie, weiß auf weiß, ihr schneebedecktes Grab schmücken. Ich wünsche mir, daß morgen die Sonne recht hell scheinen möge.
Es war stets selig leuchtender Tag für mich, und mir war immer so sicher zumute, als wenn an meinem Lebenshimmel ewig die Sonne glänzen müßte. Und jetzt ist es so schwarze Nacht. Doch trotz des Verlusts danke ich dem Himmel, daß er mir Marie gegeben hat; tausendmal lieber will ich sie verloren als gar nicht besessen haben.
Nun sagen mir die Freunde, die heilende Zeit |176| werde auch bei mir ihr Wunder wirken – aber gerade dieser Gedanke ist mir der traurigste. Denn er sagt mir, daß das geliebte Wesen immer ferner und ferner in die Vergangenheit zurücktreten wird. Während ich es jetzt noch in die Arme schließen kann, wird es einst nur noch ein Luftgebilde sein. Ich liebe meinen Schmerz, und wenn ich ihn einmal entbehren muß, so weiß ich, daß es nichts mehr mit mir ist.
Dein Bruder
Walther Munzinger
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Oktober 1871. Werner Munzinger ist verschwunden. In Massaua ist er nicht, in Keren auch nicht, und in Kassala finden wir ihn ebensowenig. Noch weiter westlich aber, in Khartum, sehen wir einen jungen Europäer, der im Schatten eines Feigenbaumes ein kleines Grab im staubigen Erdboden aushebt. Es ist Adolf Haggenmacher aus Brugg im schweizerischen Aargau, sechsundzwanzigjährig, der seit fünf Jahren sein Glück als Handelsmann in Ostafrika sucht, und zwar vergeblich. In Khartum ist er hängengeblieben, weil er in Liebe entbrannt war zu einem Mädchen, das ein venezianischer Kapitän auf Expeditionsreise mit einer Sudanesin gezeugt hatte.
Haggenmacher geht ins Haus und holt Fritz, seinen erstgeborenen Sohn, der gestern kurz nach dem dritten Geburtstag am Fieber gestorben ist. Die Mutter will nichts wissen von der Beerdigung; sie hat sich mit dem kleinen Eduard zum Mittagsschlaf hingelegt. Nun, da der Ältere tot in den Armen Haggenmachers liegt, ist er fast so bleich wie sein Vater. Aber das Kraushaar ist ganz das der Mutter, und die lieben Gesichtszüge sind auch nach ihr geraten. Haggenmacher legt Fritz ins Grab. Mit bloßen Händen greift er in den Erdhaufen, sachte deckt er den kleinen Körper zu, als hätte er Angst, ihn aufzuwecken. Als die Grube voll ist, bedeckt er das Grab zum Schutz gegen die Hyänen mit |178| schweren Steinen. Dann pflanzt er ein selbstgezimmertes Holzkreuz ans Kopfende, bekreuzigt sich und geht schnell weg. Haggenmacher
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