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Munzinger Pascha

Munzinger Pascha

Titel: Munzinger Pascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Capus
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jeder Kleinstädter vom anderen kannte   – Jahrgang, Schulbildung, Zivilstand, exakte Wohnadresse, Vorstrafen, Umfang einer allfälligen
chronique scandaleuse
–, waren seltsamerweise unbekannt. Natürlich hätten sie sich in Erfahrung bringen lassen durch ein paar beiläufige Anfragen da und dort. Aber aus irgendeinem unausgesprochenen Grund tat man das nicht. Nicht bei Polja.
    Stolz stand sie da, die breiten Schultern unter der schweren Lederjacke nach hinten gezogen, den langen Hals durchgebogen wie ein Schwan. Einer der vier Jasser bemerkte meine Blicke und stieß seinen Nachbarn an: »He, Willy, zieh doch wieder mal deine Guru-Guru-Nummer ab!«
    Willy legte die Karten auf den Tisch, klemmte beide Daumen unter den Achselhöhlen fest und flatterte mit den Ellbogen. »Polja, schau her! Guru, guru! Ich bin ein Täubchen, ein Täubchen!«
    |39| Die Jasser lachten und grölten. Ich lachte mit, obwohl ich den Scherz nicht verstand. Polja bewahrte Haltung. Begeistert von seinem Erfolg, flatterte Willy weiter: »Guru, guru, ein Täubchen, ein winziges, liebes kleines Täubchen!«
    Da machte Polja vier Schritte zu ihm hin, verpaßte ihm mit der flachen Hand zwei harte, schallende Ohrfeigen und stand auch schon wieder am Tresen bei ihrem Gin Tonic. Die drei Jasser brüllten vor Lachen. Der kleine Willy machte ein dummes Gesicht, flatterte der Form halber noch zwei Mal mit den Armen und machte »Guru-Guru!«
    Jetzt regte sich Unmut an den Tischen ringsum. Dort saß seit Mitte der siebziger Jahre eine einheitliche Masse von Studenten, Sozialarbeitern und Hobbymusikern beiderlei Geschlechts, die alle verfärbte Baumwollkleider trugen und bunte Strähnen im glanzlosen Haar. Sie lasen die ›Weltwoche‹, rauchten ›Parisienne mild‹ und saßen so dicht beieinander, daß kaum zu sehen war, wo ein Leib aufhörte und der nächste begann. Alle waren sie einträchtig empört über Willys schlechtes Betragen und Poljas Gewalttätigkeit. Aus einem Dutzend Münder fauchte es: »Primitiv . . . was soll das . . . laßt sie doch . . . immer die gleichen . . .«
    Polja achtete nicht darauf. Der kleine Willy aber schaute auf die Münder, suchte einen auszumachen, der lauter sprach als die anderen oder deutlicher oder frecher. Er wurde nervös, sein Blick sprang hin und her, aber das Monster war nicht zu greifen, formlos, weich und nachgiebig und gerade deshalb furchterregend. Willy warf seinen Stuhl zur Seite, rammte mitten im Lokal die Stiefel in den Boden und schrie: »Was ist |40| los? Hat jemand etwas gesagt? Dann soll er herkommen!«
    Einen Moment war es still. Gefährlich still. Da rief eine Frauenstimme aus der Tiefe des Saals: »Kann ich bitte einen griechischen Salat haben?«
    Polja lachte auf, und dann lachte das Monster aus all seinen Mündern, zerfiel im Gelächter zu Einzelmenschen, die eine Zeitung holten, zur Toilette gingen, den Platz wechselten oder sitzenblieben. Willy stand verloren da, der Feind hatte sich in Luft aufgelöst. Links und rechts wieselten Studenten und Sozialarbeiter an ihm vorbei. Seine drei Jaßfreunde brummten gutmütig. Der große Hippie Werni teilte Karten aus und rief: »Komm, Willy, machen wir weiter.«
    Nach dem zweiten Bier ging ich zur Toilette. Ich hatte mich kaum vor dem Pissoir aufgestellt, als schon Werni neben mir stand.
    »Du, was hat das auf sich mit dieser Guru-Guru-Geschichte?«
    »Jaaa«, sagte er und schloß genießerisch die Augen. »Das ist gar nicht lustig. Polja hat kürzlich eine Taube zu Tode getrampelt.«
    »Was?«
    »Eine Taube plattgemacht. Sprang bei der Stadtkirche vom Mäuerchen   – gegenüber vom Kaufhaus, du weißt schon, wo. Keinen halben Meter hoch, aber für die Taube hat’s gereicht. Hatte keine Zeit mehr wegzufliegen, das blöde Vieh. Und Polja trug ihre Fallschirmspringerstiefel.«
    Ich war beeindruckt. Hatte Poljas Fuß das Bersten der dünnen Rippenknochen gefühlt, durch die Gummisohle ihres Fallschirmspringerstiefels hindurch? War |41| der Vogel geplatzt wie eine überreife Traube, waren Gedärme und Darminhalt auf den Asphalt gespritzt? Und als Polja erschrocken den Fuß hob: War da die Hälfte der Taube hängengeblieben im tiefen Sohlenprofil des Stiefels? Hatte Polja vom nahen Kastanienbaum einen Ast abgebrochen, um Gehirnmasse, Schädeltrümmer, Federn, Haut, Schleim und Knochen herauszuklauben? Und wer hatte schließlich den Gehsteig geputzt?
    Zurück am Tresen, bestellte ich zwei Gläser für Polja und mich.
    »Tut mir leid wegen der Taube.

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