Murats Traum
noch krauchen, als kurz vor Feierabend Philipp anrief. «Wo bist du?», fragte er.
Ich sagte es ihm.
«Wann hast du Schluss? Ich hol dich ab.»
«In ’ner Stunde. Aber das wird nichts. Ich seh aus wie ’ne Sau und rieche auch so.»
«Klingt gut. Bis gleich.» Er legte auf.
Meine Mutter hatte Spätschicht und stand nat ürlich gerade in der Nähe. «Lass mich raten», rief sie. «Murat?»
Ich streckte ihr die Zunge raus.
Natürlich hatte ich unentwegt an unsere Tage am Meer gedacht. Philipp, wie er im Bungalow mit mir tanzte. (Wie dämlich, dass ich bloß wegen Murat nicht mehr Initiative gezeigt hatte!) Seine Blicke. Unsere Distanz die ganze Zeit über. Auf der R ückfahrt die neue Sitzordnung: Diesmal fuhr Carlo, neben sich seinen Paul, hinten saßen Philipp und ich, getrennt durch Murat. Kurz vor der Autobahn wollte Paul auf einmal die Plätze tauschen. Ohne Murren fuhr Carlo rechts ran. Der Kleine sprang aus dem Wagen und hielt Philipp die Tür auf. Philipp stieg vorne ein und schnallte sich an. Weiter ging’s. Der Kleine schmiegte sich stumm an Murat, der ihm schließlich den Arm um die Schulter legte. So saßen sie die ganze Fahrt über, ohne ein Wort.
Ich sehe mich noch am Hermannplatz vorm Blauen Affen stehen, nachdem sie mich abgesetzt haben. Niemals werde ich diesen Moment vergessen, wie sie wegfahren, und ich stehe da und habe schon wieder meine Antennen draußen, wer unsern Abschied beobachtet haben könnte, und mit einemmal schreit mich die Armseligkeit meiner alten Straßen an, die S äufer und Junkies, die aufgepumpten Blödmänner mit ihren Kampfhunden und ihren fetten, watschelnden Müttern, die Billigläden und die frisierten Motoren, dieser ganze Hass und die Posen und die Enge, und ohne schon zu erkennen, was das heißt, weiß ich plötzlich ganz sicher schon das eine: dass ich ein anderes Leben will.
Philipps Polo wartete mit offener Beifahrertür auf dem gähnend leeren Kundenparkplatz, als der Schichtleiter uns am Haupteingang raus lie ß. Wie sich die andern die Hälse verrenkten, als ich mit meinen Gummistiefeln auf das einzige Auto weit und breit zustapfte! Glotzt ihr nur, dachte ich, und passt gut auf! Früh war ich gleich in Arbeitsklamotten zum Markt gekommen. Nun klopfte ich den gröbsten Dreck von meinem Blaumann, stieg ins Auto und küsste Philipp auf den Mund. Er startete mit überraschtem Gesicht.
Wir fuhren zu ihm. Ob er was kochen solle, fragte er unterwegs, wir könnten noch irgendwo halten und einkaufen.
«Nein, Stulle», sagte ich. «Am Lager? »
«Yes, Sir.» Er konzentrierte sich auf den Verkehr. «Und sorry, dass ich nicht warten konnte.»
«Passt schon», murmelte ich. Auf einmal fühlte es sich wie die normalste Sache an, dass ich in meinen dreckigen Klamotten neben ihm saß und wir nach Hause fuhren. Da war kein Widerstand mehr. Wir redeten nichts. An einer roten Ampel küssten wir uns, und ich sp ürte, wie Philipp zitterte.
In der Wohnung ließ er mir ein Bad ein. Ich wusste noch, wo in seiner Küche der Schnaps stand, griff mir den Remy Martin und trank gleich aus der Flasche. «Keine Angst», beruhigte ich ihn. «Ich trink mir bloß Mut an.» Was hatte ich damit gemeint? Ich nahm die Pulle mit ins Bad und zog mich aus. Rindenmulch bröselte auf den sauberen Fliesenboden. Ich hörte Philipp in der K üche hantieren. Hatte ich jetzt einen Freund?
Ich saß in der Wanne und ließ mich füttern, Schnittchen, Schinken und Käse, Oliven, Tomatenviertel mit Pfeffer und Salz. Ich sagte: «Sieh dich vor. Wenn du so weitermachst, wirst du mich nie wieder los.»
Philipp lachte leise, es klang irgendwie kummervoll. Dann stand er vom Rand der Badewanne auf und fragte: «Arbeitest du morgen wieder? Ich fahr dich hin.»
«Ab sieben. »
«Gebongt.» In der Tür drehte er sich noch einmal um und sah mich lange an. Es ging mir durch und durch, und als er weg war, wurde mir klar, dass es heute passieren sollte. Ich wollte es. Es war wie eine Leerstelle, um die mein Denken schon so lange kreiste, wenn ich ehrlich war. Schon vor unsern Tagen am Meer. Dieser unerforschte Kontinent. Ich sehnte mich danach, ich wollte es auch. Es gab niemanden, mit dem ich darüber hätte sprechen können.
Ich hatte schon etliche Männer und Jungs gefickt. Ich versuchte, mir ihre Ärsche in Erinnerung zu rufen. Diesen Muskelmund. Mein Reinstoßen. Ihr Stocken, ihr Nachgeben. Sie hatten es meistens drauf gehabt, hatten es irgendwie gebracht. Und schlie ßlich Paul. Beneidete ich ihn nicht
Weitere Kostenlose Bücher