Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
Vom Netzwerk:
Mutter
Bescheid. Ich nehme an, sie hatten sich irgendwie arrangiert. Vielleicht war es
ihr auch egal, solange er diskret war. Sie wollte nur eins: dass ihr die Stadt
wieder zu Füßen lag, und dass ihr wie in den guten alten Zeiten jeder die Ehre
erwies. Nimm die Dinnerparty heute Abend, wie glücklich sie war. Sie hat sogar
daran gedacht, Charles, dir in dem neuen Flügel ein Zimmer zu geben - wenn du
nicht so ein Chaos angerichtet hättest. Aber mir hat sie nie verziehen. Ich
hab die Regeln verletzt. Solange keiner plaudert, ist alles bestens. Jeder weiß
Bescheid, und jeder tut so, als wüsste er nichts, so bleibt alles schön im
Fluss. Sobald aber die ersten Bröckchen Wahrheit herauskommen, zerbröselt das
gesamte Kunstgebilde. Und es steht viel zu viel auf dem Spiel, als dass man das
zulassen dürfte. Das war es, was sie mir am Abend der Schulaufführung erklären
wollte. Sie hat immer gesagt, dass eine Schauspielerin sich nicht zu sehr um
die Wahrheit kümmern sollte.« Sie nahm das Wodkaglas in beide Hände und zog die
Schultern hoch. »Aber ich war nie eine sonderlich gute Schauspielerin.«
    Sie hielt
inne, trank ihr Glas aus und schenkte es wieder voll. Ich wollte aufstehen und
etwas sagen, aber ein Gewicht drückte mir auf die Brust, und auch mit meinen
Augen war irgendetwas nicht in Ordnung. Ich schien nicht mehr in der Lage zu
sein, den Raum als Ganzes zu überblicken. Stattdessen leuchteten nacheinander
einzelne Bereiche auf, so wie Lämpchen in einem Flipper: der rosafarbene
Schalenkoffer, der neben meinem rechten Fuß stand; die Jagdhunde, die den
Aktaieon zerfleischten; das geschwungene grüne Schutzblech über dem Vorderrad
des Mercedes, der draußen vor der Garage stand; Bels Beine, die, weiß wie
Kerzen unter dem wehenden schwarzen Kleid, auf mich zugingen und direkt vor mir
stehen blieben.
    »Aber das
weißt du ja alles«, sagte sie. »Ich weiß, dass du es weißt. Vielleicht nicht
alle Einzelheiten. Aber genug. Deshalb wolltest du ja auch unbedingt weg von
hier; erst der schwachsinnige Plan mit Chile, und dann, als das nicht klappt,
da haust du wegen einer kleinen Kabbelei mit Mutter einfach so ab? Nur weil sie
wollte, dass du dir einen Job suchst, verlässt du deinen Stammsitz und ziehst
bei Frank ein?«
    Sie setzte
sich neben mich auf die Chaiselongue. »Verstehst du das denn nicht? Ich bin
sauer auf dich, weil du den Ahnungslosen spielst, weil du so tust, als sei
alles auf der Welt nur eine Abschweifung von dem
grandiosen, erlauchten Leben, das Vater für uns beide entworfen hatte, und weil
du so tust, als würde man Vater verraten, wenn man irgendwas anderes macht oder
sich auf irgendwas anderes einlässt. Aber es gibt keinen Entwurf, Charles. Da
sind keine Werte. Amaurot war immer nur ein Ort, wo er seine Hirngespinste
ausleben, mit dem Kopf in den Wolken herumspazieren und so tun konnte, als ob
die Welt da draußen gar nicht existierte. Ich bin nicht sein Richter. Aber
nichts von all dem hat irgendeine Bedeutung, außer das Geld vielleicht.«
    Meine
Fingerspitzen waren schweißnass, dauernd drohte mir das Glas aus der Hand zu
rutschen. Das Heulen des Sturms im Kamin hörte sich an wie das Pfeifen eines
durchgeknallten Dudelsacks. Ich fühlte mich, als hätten wir das Ende der Welt
erreicht, als gebe es nur noch den Salon, die Chaiselongue und uns beide. Ich
nahm all meine Kraft zusammen und stemmte mich - wie ein alter Dinosaurier, der
mühsam aus einem Sumpf klettert - auf der Chaiselongue nach vorn, stützte die
Unterarme auf die Oberschenkel, räusperte mir den Staub aus der Kehle und
nuschelte: »Bockmist.«
    Ich hätte
weitermachen können. Ich hätte ihr erzählen können, dass ich noch nie in
meinem Leben derart abscheulichen Müll gehört hatte. Ich hätte mir jeden ihrer
Punkte vornehmen und einen nach dem anderen widerlegen können. Aber ich merkte,
dass die Anstrengung des Aufsetzens mich ausgelaugt hatte. Also stellte ich
mein Glas auf den Schalenkoffer, blieb einfach sitzen, starrte griesgrämig auf
den Boden und ignorierte den Blick, den ich auf meiner Wange spürte.
    »Sie haben
Anklage gegen Geoffrey erhoben«, sagte Bel. Ihre Stimme klang jetzt wieder
analytisch distanziert. »Du hast sicher davon gehört. Bei den Ermittlungen der
Regierung in dieser Offshore-Geschichte ist eine von Vaters Firmen aufgetaucht.
Bis jetzt haben sie die Spur noch nicht bis zu uns zurückverfolgt. Kann aber
nicht mehr lange dauern. Wenn die sich die Bücher erst mal genauer anschauen,
ist das

Weitere Kostenlose Bücher