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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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meiner Tasche lugte.
»Warum setzen wir uns nicht einen Moment, trinken einen Schluck und kommen
beide wieder zur Ruhe.«
    Sie zupfte
bettelnd an meinen Hemdknöpfen. Ich schwankte. Ihr Blick war wirr, die Augen
kamen mir viel zu weiß vor. Trotzdem, ein Drink wäre jetzt tatsächlich genau
das Richtige.
    Bel holte
zwei Gläser, schenkte sich selbst und dann mir einen kräftigen Schluck ein. Wir
setzten uns auf die Chaiselongue, nippten an unseren Drinks und schauten
hinaus in den Sturm, so friedfertig und vornehm, als nähmen wir draußen auf dem
Rasen unseren Tee. Plötzlich fing sie an, über diese Meisterklasse in Jalta zu
plaudern, darüber, dass der Veranstaltungsort das Landhaus sei, in dem
Tschechow gelebt habe, nachdem er wegen seines schlechten Gesundheitszustands
Moskau habe verlassen müssen; dass er dort mit seiner Frau Olga, einer
Schauspielerin, gelebt und dort auch sein letztes Stück, den Kirschgarten, geschrieben habe; dass er an seinem Geburtstag zur Premiere nach
Moskau gefahren sei und einen Hustenanfall erlitten habe, als ihn das Publikum
nach der Aufführung auf der Bühne habe sehen wollen; und dass er zwei Monate
später im Alter von vierundvierzig Jahren friedlich gestorben sei. Und was sie
vor wenigen Augenblicken gesagt oder fast gesagt hatte, hing bleiern im Zimmer,
unsichtbar und geruchlos wie Asbest. Nachdem wir wieder eine Zeit lang stumm
dagesessen hatten, sagte ich: »Erinnerst du dich noch an den Abend der
Schulaufführung, Bel?«
    »Mmm?«,
brummte sie abwesend.
    »Als ihr
den Kirschgarten gespielt habt und du deinen Text
vergessen hattest. Du hattest einen totalen Blackout, weißt du noch?«
    »Natürlich
weiß ich das noch«, sagte sie.
    »Als ich
Frank davon erzählt habe, ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich dich nie
gefragt habe, wie das passieren konnte.«
    »Keine
Ahnung«, sagte sie. »Ich hatte wohl einfach meinen Text nicht gut genug
gelernt.«
    »Dann
hattest du den Riesenkrach mit Mutter«, sagte ich. »Und am nächsten Tag bist du
krank geworden. Aber wir haben nie darüber geredet.«
    Sie
schaute mich komisch an. »Ich hab eine bessere Idee, Charles«, sagte sie und
stand auf. »Geh schlafen. Trink dein Glas aus und geh ins Bett. Morgen hast du
alles vergessen.«
    »Aber du
hast doch gesagt, wir sollen uns
erinnern.«
    Der Wodka
bewirkte, dass mir die Luft schwül und samtweich wie ein Kissen vorkam. Am
Himmel war wieder ein silbernes Funkeln zu sehen, das aber sofort von der
Dunkelheit verschluckt wurde. Plötzlich sah ich Gene Tierney vor mir, wie sie
nach einer Elektroschockbehandlung in ihrem Krankenhausbett aufwacht und nicht
weiß, wo oder wer sie ist.
    »Du weißt,
was passiert ist«, sagte sie leise.
    »Ich
will's von dir hören.«
    Sie
nuckelte nachdenklich an einem Fingerknöchel. Sie schaute zur Uhr, dann auf
die verglimmende Asche im Kamin. »Na ja, ist eigentlich auch egal«, sagte sie.
»Du glaubst es mir ja sowieso nicht.« Sie nahm die Azaleen wieder in die Hand
und ging zum Vorhang am Fenster, wobei sie sich mit dem kleinen Strauß
rhythmisch auf die Handfläche schlug. »Aber das war nicht in der Nacht, als
das alles passiert ist«, sagte sie. »Es war ein paar Tage früher. Damit wir
unseren Text lernen konnten, hatten wir die ganze Woche nachmittags keinen
Unterricht. Es muss Mittwoch gewesen sein, weil das Hausmädchen nicht da war.
Ich war in meinem Zimmer und bin ein paar Szenen durchgegangen, und da hab ich
etwas gehört ... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. In meiner
Erinnerung hört es sich einfach wie ... wie Ärger an. Ich konnte mir keinen
Reim darauf machen. Eigentlich hätte gar keiner im Haus sein sollen. Ich bin
zur Tür, hab aufgemacht, und da hat dieses Mädchen gestanden, splitternackt.
Stand einfach da. Es war wie im Traum. Sie hatte blaue Lidschatten und hat
mich angestarrt, aber ich glaube nicht, dass sie mich wahrgenommen hat. Ich
glaube nicht, dass sie wusste, wo sie war. Ihre Augen waren nur leer. Wir haben
vielleicht eine Minute so dagestanden und uns angeschaut, und dann ist Vater
um die Ecke gekommen, und sie ist die Treppe runtergeschossen. Und ich bin
stehen geblieben und hab jetzt Vater angeschaut. Ich glaube, ich hab was gesagt
wie >Hey, was ist denn hier los?< oder so, und er hat mich am Arm gepackt
und gesagt: >Es ist ein Unfall passiert, Christabel, ich brauche jetzt deine
Hilfe.< Immer wieder hat er das gesagt. Er hat mich einfach nicht gehen
lassen. Natürlich hatte es gar keinen Unfall gegeben.

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