Murray, Paul
Aber was auch passiert
war, das Mädchen war total hysterisch, sie hat ihn nicht an sich rankommen
lassen. Also musste ich losziehen und sie suchen. Sie war im Wirtschaftsraum,
hatte sich hinter den Trockner gequetscht, in den Spalt, wo Mrs P immer das Bügelbrett
hinstellt. Als ich sie gesehen hab, Charles, da wollte ich mich sofort zu ihr
setzen, sie hat so klein und dünn ausgesehen, völlig wehrlos, wie ein kleines
Tier. Alles, was sie am Körper hatte, war dieser Lidschatten, ein dunkelblauer
Lidschatten. Ich musste an die gruseligen ägyptischen Göttinnen denken, an
Isis und Nephthys und die alle. Ich hab dann mit ihr geredet, hab sie ins Bad
gebracht und gewaschen, und allmählich hat sie sich beruhigt und war wieder
ganz okay. Eigentlich hat ihr nichts gefehlt, sie war einfach nur ausgerastet.
Sie war so blutjung. Dann ist sie wieder nach oben gegangen und hat sich
angezogen, und ich hab ein Taxi gerufen. Vater hat sich nicht blicken lassen.
Als sie weg war, bin ich zurück in mein Zimmer, hab mich wieder an meinen Text
gesetzt, und es war, als ob nichts passiert wäre. Vater hat nichts mehr zu mir
gesagt deswegen, und ich hatte nicht vor, irgendwem davon zu erzählen. Nicht
unbedingt deshalb, weil ich ihn schützen wollte. Mehr, weil ich dachte, wenn ich
keinem was erzähle, dann ist es auch leichter für mich, so zu tun, als wäre
eigentlich gar nichts passiert. Aber natürlich musste ich doch immer dran
denken. Es kam mir vor, als bekäme alles im Haus eine neue Bedeutung. Die
verschlossenen Türen, die Fotografien. Manchmal bin ich in meinem Zimmer
gestanden und hab gedacht, schenkt Vater die gleichen Sachen, die er mir
schenkt, Sachen zum Anziehen, Schmuck, Parfüm, auch seinen ... seinen Models?
Kauft er am Flughafen von allen Sachen gleich drei Stück? Oder sieht er zufällig
irgendwas, von dem er glaubt, dass es einem der Mädchen stehen würde ... dem
Mädchen, mit dem er gerade...« Sie machte eine schickliche Pause. Draußen wogte
und donnerte die Nacht. »Und dann fing das an, dass ich mich dauernd übergeben
musste. Ich konnte nichts bei mir behalten. Mutter hat gedacht, es wären die
Nerven, wegen dem Stück. War es vielleicht auch, zum Teil. Und am Abend der
Aufführung war sie so lieb zu mir, sie hat gesagt, ich brauchte mir keine
Sorgen zu machen, und hat mir erzählt, dass sie nur ein bisschen älter war als
ich, als sie die Varja gespielt hat. Und plötzlich kam alles aus mir raus, ich
konnte nichts dagegen machen. Ich hab geweint, und alles ist nur so aus mir
rausgesprudelt. Ich hab nicht darüber nachgedacht, wie sie reagieren könnte.
Vielleicht hab ich auch gedacht, dass sie es wissen wollte. Ich meine, darum
geht's doch bei der Wahrheit, man spricht sie aus. Du weißt ja selbst, wie sie
immer hinter uns her war, haltet euch gerade, steck das Hemd in die Hose, wehe,
wenn ihr Äpfel aus Thompsons Garten klaut. Als ich fertig war, hat sie eine
Zeit lang keinen Ton gesagt. Ich weiß noch, dass sie neben dem Spülstein
gestanden hat, die Lippen zusammengepresst, und ich bin am Küchentisch
gesessen in diesem lächerlichen russischen Ballkleid und hab mir gewünscht,
dass sie endlich was sagt. Und als sie dann angefangen hat, hab ich mir
gewünscht, dass sie wieder aufhört. Es war grauenhaft. Aber der schlimmste
Vorwurf war, dass ich mir das alles ausgedacht hätte. Sie war dermaßen böse, so
außer sich, dass ich Angst hatte, sie tut sich was an. Und ich hab angefangen
zu glauben, dass ich mir das wirklich ausgedacht haben musste, und ich
hab mich gefragt, wie ich nur so was Scheußliches hatte tun können. Und von da
an war ich total durcheinander.«
Sie ging
wieder quer durch den Raum zum Kamin und strich mit den Fingern über den
marmornen Sims. Ich hob mein Glas an die Lippen. Es war leer, und ich griff
nach der Flasche.
»Wenn ich
ihr nichts erzählt hätte, wäre alles bestens gewesen. Sie hatte es schon
gewusst, das habe ich erst hinterher gemerkt. Jeder hatte es gewusst. So ist
sie eben, die Welt der Mode. Sie holen diese vierzehnjährigen Mädchen aus
ihren Elternhäusern und verwandeln sie in Fantasiegebilde; sie machen sie
berühmt und reich, und im Gegenzug ... na ja, wer könnte da widerstehen, mit
einem veritablen Kunstwerk zu schlafen, mit einem von dir selbst erschaffenen
Kunstwerk? Schätze, das ist so was wie ein droit de
seigneur. Und dann wundern die sich, dass ihre Kunstwerke nach zwei
Jahren magersüchtig sind und Rasierklingen schlucken. Natürlich wusste
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