Murray, Paul
zu
nehmen und ihr die Schuld an dem zu geben, was passiert ist, aber jetzt stellt
sich heraus, dass es vielleicht doch nicht so simpel ist wie das Video,
vielleicht gab es ja noch andere Dinge, die Daniel auf der Seele gelegen haben
und bei denen ihm noch wer anders hätte helfen können, er zum Beispiel, der
Fettsack, sein sogenannter Freund. Man sieht, wie es ihm dämmert, er sackt auf
den Stuhl zurück, Entsetzen malt sich auf seinem Gesicht, doch Lori verspürt
nicht etwa den Wunsch, ihn zu trösten und zu sagen, Hey!, ist schon okay, wir
gehen das zusammen an, und den Schmerz, den sie beide empfinden, mit ihm zu
teilen, nein, sie will ihn fertigmachen, sie will es ihm heimzahlen, dass er
ihr das angetan hat, ihr das Gefühl gegeben hat, sie wäre böse und lieblos,
ein Rabenaas, er weiß doch kein Fitzelchen von ihr, sonst wüsste er, dass sie
eine entzückende, reizende Person ist, die jeder mag, und dass liebe für sie das Wichtigste ist und sie den ganzen Tag
an nichts anderes denkt, nur zu deiner Information, du Fettsack, du
Ekelmonster, du widerliche Riesenkröte, du wirst nie eine finden, die dich
küssen will, nicht mal wenn sie blind wäre, sie wünschte, er läge auch irgendwo
mausetot im Grab, liebend gern würde sie ihn dahinverfrachten, ihm richtig fies
wehtun, auf ihn losgehen und ihm das Gesicht zerkratzen, kratzen und kratzen,
tiefer und tiefer, bis nichts mehr da ist, kein Gesicht, bloß noch Rot wie ein
Teller Spaghetti Bolognese, von dem man die Spaghetti weggegessen hat, und sie
steht tatsächlich auf und geht einen Schritt zu ihm hin, reißt ihn aus seinem
Brüten und sieht seine angstvoll geweiteten Augen -
Alles okay bei euch? Moms Gesicht in der Tür.
Ja, danke, Mom. Loris Miene ist freundlich und beherrscht.
Hätte dein Freund gern einen Schluck Orangensaft? Oder
eine Pepsi?, erkundigt sich Mom.
Nein danke, Mrs. Wakeham, sagt das Krötending.
Eigentlich wollte er gerade aufbrechen, sagt Lori.
Wie auf ein Stichwort erhebt sich der fette Junge. Mom
nickt und macht die Tür wieder zu. Lori und der fette Junge starren einander
an. Er zittert, in seinen Augen sieht Lori nichts als Verzweiflung und
Nichtbegreifen. Auf Wiedersehen, sagt sie. Er geht zur Tür hinaus und nach
unten. Vom Treppenabsatz hört sie, wie er die Haustür öffnet und schließt. Sie
geht zurück und schiebt den Vorhang vor ihrem Fenster beiseite. Da steht er,
auf der Zufahrt, im Licht des Bewegungsmelders und hält sich den Kopf, als
würde er vor Schmerz gleich zerspringen. Vielleicht ist es der gleiche Schmerz
wie der in ihrem Bauch. Er bleibt so lange regungslos stehen, dass der
Bewegungsmelder ausgeht. Sie zieht mit einer raschen Bewegung den Vorhang zu,
lässt sich aufs Bett sinken und weint, bis die Decke patschnass ist.
Ja, ich hab ihn geliebt, krächzt sie durch Rotz und Tränen
Lala an, ihren Teddybären, und weiß gleichzeitig, dass es stimmt, und dass Carl
es auch gewusst hat, noch vor ihr, und deswegen hat er das gemacht, was er
gemacht hat. Und ihr wird klar, dass die Liebe keine geraden Wege geht, der
Liebe geht es nicht um richtig oder falsch oder darum, ob du ein guter Mensch
bist, oder ob sie dich gar glücklich machen soll; und wie in einer Vision sieht
sie, dass das Leben und die Zukunft sehr viel komplizierter sein werden, als
sie je erwartet hätte, ungeheuerlich, unerträglich kompliziert und schwierig.
Im selben Moment fühlt sie sich mit einem Mal älter, als hätte sie bei einem
Videospiel ein Level geschafft und wäre unbemerkt auf die nächste Stufe
gewechselt; eine Müdigkeit bemächtigt sich ihres Körpers, wie sie sie nie
zuvor empfunden hat, als wenn sie ein tonnenschweres Gewicht im Magen hätte
...
Und darum ist sie froh, als ihr Handy schnarrt und sie aufhören
kann, darüber nachzudenken. Sie checkt die neue Nachricht und entdeckt, dass
sie in der vergangenen Stunde haufenweise Nachrichten von allen möglichen
Leuten bekommen hat - von Janine, von Denise, von KellyAnn, Shannan, Richard
Dunstable (Seabrook), Graham Canning (St. Mary's) und Leo Coates (Gonzaga); sie
liest eine SMS nach der anderen, antwortet, antwortet auf die Antworten, die
Zeit vergeht, das Handy schnarrt, die Nachrichten umhüllen sie wie ein Kokon,
schirmen sie ab vor dem Gedanken an den Kröterich, an das, was in ihrem Magen
steckt, an alles sonst.
Die SMS von Shannan löscht sie natürlich sofort, ohne sie
zu lesen. Lori und Janine behandeln Shannan wie Luft, seit Lori draufgekommen ist,
dass Shannan
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