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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 3)
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Tränen tropfen auf den Tisch. Howard wird flau im Magen. Um
die unerträgliche Stille zu füllen, ringt er sich trotzdem ein paar Worte ab.
»Weißt du, Ruprecht ... es ist vollkommen normal, dass du so empfindest. Wenn
man einen Verlust erleidet -«
    »Ich muss los«, sagt Ruprecht und wuchtet sich aus dem
Plastikstuhl.
    »Warte!« Howard erhebt sich ebenfalls. »Was ist mit deinem
Projekt, soll ich dir ein paar Bücher besorgen, oder ...«
    Aber Ruprecht ist schon fast draußen, die zufallende Schwingtür
schneidet sein dünnes Danke,
Wiedersehen ab, und Howard bleibt eingeschrumpft unter den
Neonlichtern und dem kühlen, abschätzenden Blick des asiatischen Jugendlichen
zurück, der stoisch Kaffeesiebe über dem Mülleimer ausklopft.
    Es ist Nacht. Janine liegt auf der Straße. Carl steht über
ihr. Ich musste es ihr erzählen, Carly, es ging nicht anders.
    Was sie sagt, ist schwer zu verstehen. In den Fenstern der
Häuser sind die Vorhänge zugezogen. In Loris Fenster brennt kein Licht mehr,
und sie sitzt nicht in dem Auto, das durchs Tor geschossen kommt.
    Ich hab es für uns getan, sagt Janine. Sie kommt auf die
Knie, umklammert seine Beine, klebt an ihm wie ein Blutegel. Sie ist weg, Carl,
es ist aus! Wieso kannst du sie nicht einfach vergessen?
    Sie will ihm nicht sagen, wo das Krankenhaus ist, und das
Auto fährt zu schnell, als dass Carl mit dem Fahrrad hinterher käme.
    Da, sagt Janine mit Grabesstimme und greift in ihre
Tasche, guck doch selbst, wenn du mir nicht glaubst. Ich hab ein Foto von ihr
gemacht. Na los, guck schon, das ist sie, deine Liebste.
    Das Gesicht langgezogen wie ein Streifen Kaugummi.
    Nein!
    Er pfeffert ihr Handy volle Kanone durch die Gegend und
geht; sie kriecht durch irgendeinen Vorgarten und plärrt: Warte, ruf mich an,
ruf mich an, sonst finde ich es nie.
    Jetzt ist er zu Hause und versucht Fernsehen zu gucken.
Mit einem Daewoo würde ich mir nicht mal den Hintern abwischen, erklärt
Clarkson, der Moderator vom Automagazin. Auf dem Bett das neue Trikot von den
All-Blacks. Unten Mom: Das kannst du dir abschminken! Und Dad: Soviel ich weiß,
gehört die Scheißbude immer noch mir! ich versuch
hier fernsehen zu gucken, brüllt Carl. Clarkson sagt: Du
bist tot, Junge. Carls Kopf fährt wieder zum Fernseher herum. Ich will was mit
einem fetten Sound, sagt Clarkson. Carl läuft ein Schauer über den Arm, es
kribbelt in jeder Narbe.
    Da klingelt das Handy. Barry. Es ist so weit, sagt er.
    Was?, fragt Carl.
    Übermorgen Abend. Die Connection, Mann. Sie nehmen uns mit
zu dem Druiden.
    Carls Hirn tastet sich in das unendliche pechschwarze
Dunkel seiner Erinnerung zurück.
    Weißt du, was das heißt?, sagt Barry. Das heißt, wir sind
drin. Wir sind gemachte Männer.
    Und dann, im Handy, aber nicht Barrys Stimme: Er wartet
auf dich, Carl.
    Er fährt vom Bett hoch. Was hast du gesagt? Wieder Barry,
als wäre nichts: Das ist so was von abgefahren, Mann. Ich mein, echt jetzt,
weißt du, was das heißt? Aber Carl weiß nicht, was das heißt.
    Nachts ist es am schlimmsten: Er wacht auf und spürt,
spürt buchstäblich, dass wieder eine Abfolge von Momenten aus seinem Gedächtnis
verschwunden ist. Wo genau hat Skippy
an dem Tag im Speisesaal gesessen? Was hat er immer aus seinem Hamburger gepult,
die saure Gurke oder die Zwiebel? Wie hieß der Hund, den er vor Dogley hatte?
So viele Sachen, die er in Erinnerung behalten will! Und obwohl Ruprecht sein
Bestes tut - sie sich im Bett laut vorsagt, möglichst nicht mit anderen redet
oder irgendwo zuhört, damit keine neuen Bilder und Erinnerungen die alten vertreiben
-, hat er doch immer wieder was vergessen und zuletzt eingesehen, dass es
immer so weitergehen wird; ganz egal, was er tut, die Momente werden weiter
vertröpfeln, wie Blut aus einer Wunde, die nie heilen kann, bis sie alle fort
sind. Die Erkenntnis war fast noch schlimmer als alles andere vorher. Ihn hat
so eine Mordswut gepackt! Er hat getobt, geschäumt, gekocht vor Wut - auf sich
selbst, auf Skippy, auf die ganze Welt! - und sich in seiner Rage geschworen,
alles ein für alle Mal zu vergessen, hinter sich zu lassen. Aber das konnte er
auch nicht; er ist innerlich bloß immer wütender und äußerlich immer fetter und
blasser geworden, eine lebendige Leiche.
    Bis zu dem Ausflug in den Park hatte er lange keinen Gedanken
mehr auf die Naturwissenschaften verschwendet, den Computer wochenlang
ausgeschaltet gelassen, ja selbst den dafür zuständigen Teil seines Gehirns
nicht mehr in Gang

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