Murray, Paul
geschmolzenen Eiswürfel auf dem Grund seines
Styroporbechers betrachtet. Die Touristen stehen vom Tisch auf und gehen.
»Ich möchte dir noch von einem anderen berühmten Mann
jener Zeit erzählen«, sagt Howard schließlich. »Von Rudyard Kipling, dem
Schriftsteller. Er hat unter anderem Das
Dschungelbuch geschrieben - du hast doch sicher den Film gesehen,
weißt schon, mit Balu? Du-bi-du, ich
wär so gern wie du ...«
Ruprecht starrt ihn perplex an.
»Na, jedenfalls, bei Kriegsausbruch wollte Kiplings
einziger Sohn John einrücken. Da er erst sechzehn war, musste Kipling einige
Beziehungen spielen lassen, um ihm zum Eintritt in die Armee zu verhelfen. Der
Kommandeur der Irish Guards war ein Freund von ihm und erwirkte für Kiplings
Sohn eine Sondergenehmigung. John absolvierte ein Jahr lang die
Grundausbildung und wurde danach an die Westfront geschickt. Keine Dreiviertelstunde
nach Beginn seiner ersten Schlacht ist er verschollen und wurde nie wieder
gesehen.
Kipling war untröstlich. Er versank in einer
rabenschwarzen Depression. Es wurde so schlimm, dass er kurz davor war, es mit
Seancen zu versuchen, die er immer als Hokuspokus abgetan hatte, nun aber als
Hoffnungsschimmer sah, mit seinem Sohn Kontakt aufzunehmen. Doch da trat der
Oberst der Irish Guards an ihn heran. Jedes Regiment hielt seine
Kriegserlebnisse in einem Bericht fest, und der Oberst fragte bei Kipling an,
ob er den Bericht für das Regiment seines Sohnes schreiben wolle.
Nun war Kipling Brite durch und durch. Die katholischen
Iren waren für ihn nicht mehr als Tiere. Aber weil es sich um das Regiment
seines Sohnes handelte, erklärte er, zu der Zeit vermutlich der berühmteste
Schriftsteller der Welt, sich einverstanden, den Regimentsbericht zu schreiben.
Nicht nur das, er entschied sich auch, über die Männer zu schreiben - nicht
über die Offiziere, nicht über die großen Schlachten oder übergeordnete Kriegsthematiken.
Er bediente sich der Regimentstagebücher und der persönlichen Schilderungen der
irischen Soldaten. Und war überwältigt von ihrem Mut, ihrer Loyalität und
ihrem Anstand.
Fünfeinhalb Jahre rackerte er sich mit dem Buch ab. Doch
nach der Fertigstellung bezeichnete er es als sein bedeutendstes Werk. Ihm war
die Chance geboten worden, der Tapferkeit dieser Männer zu gedenken und die
Erinnerung an seinen Sohn wachzuhalten. Ein gewisser Brodsky hat einmal
gesagt: >Wenn es denn einen Ersatz für die Liebe gibt, dann ist es die
Erinnerung.< Kipling konnte John nicht zurückbringen. Aber er konnte sich
die Erinnerung an ihn bewahren. Und auf diese Weise lebte sein Sohn weiter.«
Diese Parabel ruft nicht ganz die von Howard beabsichtigte
Wirkung hervor; ja, er ist sich nicht einmal sicher, ob Ruprecht, der mit einem
Strohhalm Sprite-Spiralen auf den Tisch malt, ihm überhaupt zuhört. Der
Jugendliche hinter dem Tresen schaut auf seine Uhr und macht sich daran, die
Kaffeemaschine zu zerlegen; das Surren des Ventilators gleicht dem sanften
Klang der unerbittlich verstreichenden Zeit. Dann murmelt Ruprecht, ohne aufzusehen:
»Und wenn man sich nicht erinnern kann?«
»Was?« Howard taucht aus seiner inneren Versenkung auf.
»Ich weiß nicht mehr, wie er aussah«, sagt der Junge mit
rauer Stimme.
»Wer? Meinst du
Daniel?«
»Jeden Tag sind wieder ein paar Stückchen weg. Ich versuch
mich an was zu erinnern, und es geht nicht. Es wird bloß immer noch schlimmer.
Und ich kann nichts dagegen machen.« Seine Stimme bricht; mit flehentlichem
Blick, das Gesicht tränenüberströmt, sieht er auf. »Ich kann nichts dagegen
machen!«, wiederholt er, und dann schlägt er sich, vor Howard, mit beiden
Fäusten auf den Kopf, so fest er kann, noch einmal und noch einmal, und schreit
dazu unablässig: »Ich kann nichts dagegen machen! Ich kann nichts dagegen
machen!«
Von seinem Platz hinter dem Tresen schaut der asiatische
Junge entsetzt zu; Howard starrt ihn hilflos an, als wüsste er vielleicht, was
zu tun ist, bis ihm klar wird, dass die Reihe an ihm ist. »Ruprecht!
Ruprecht!«, ruft er und rammt die Hände in den Trommelwirbel der Fäuste wie
zwei Stöcke in die Speichen eines Rads, bis er die Arme des Jungen zu fassen
bekommt und ruhigstellt. Ruprechts Zittern legt sich allmählich, doch jeder
Atemzug ist von einem pfeifenden Schnaufen begleitet. Er holt seinen Asthmainhalator
heraus und zieht heftig daran.
»Alles okay mit dir?«, fragt Howard.
Ruprecht nickt; die Scham hat ihn noch röter anlaufen lassen
als zuvor. Dicke
Weitere Kostenlose Bücher