Murray,Paul
sagte er. Carl blickt verständnislos
auf den gebogenen schwarzen Griff vor seiner Nase. »Keine Sorge«, fügt Howard
überflüssigerweise hinzu. »Du kannst ihn nach den Ferien zurückbringen. Ich sag
Bescheid.«
Der
Junge nimmt wortlos den Schirm. Howard sieht ihm nach, wie er die regennasse
Allee hinuntergeht, durch die Lichtinseln der Laternen, eine Reihe weißer Monde
unter dem sternlosen Himmel. Seufzend schließt er die Tür und legt den Riegel
vor.
In
der Turnhalle ist die Party wieder in vollem Gang. Aus einer Ecke beobachtet
ihn Miss Mclntyre mit verschränkten Armen; er lächelt matt und geht dann
eilends von der Tanzfläche, als DJ Wallace Willis eine Platte auflegt, die so
langsam ist, dass die Kids, gerade noch eine einzige hüpfende Masse, sich
wieder zu seelenvoll verschlungenen und mehr oder weniger gekonnt und heftig
knutschenden Pärchen gruppieren.
Er
sucht Zuflucht am Bowlestand, reibt sich die Augen und schaut auf die Uhr. Noch
zwei Stunden. Um ihn herum sind alle, die nicht zum Tanzen aufgefordert wurden
oder nicht den Mut haben, jemanden aufzufordern, in angeregte Gespräche verwickelt,
um nicht das Zeitlupenepos des sich auf der Tanzfläche entfaltenden Verlangens
verfolgen zu müssen. Bei dem Soundtrack handelt es sich um »With or Without
You« von U2. Beim Zuhören überkommt Howard die unumstößliche Gewissheit, dass
er genau diesen Song bei genau dieser Fruchtbowle schon vor vierzehn Jahren
gehört hat. Mein Gott, dieser Job! Dieser Tage kann er kaum einen Schritt tun,
ohne durch eine Falltür in seine eigene Vergangenheit zu stürzen.
Vor
fünf Monaten hat Howard hier in der Turnhalle am zehnjährigen Klassentreffen
des 93er-Jahrgangs teilgenommen. Seinen lang gehegten Befürchtungen zum Trotz
war es ein entschieden angenehmes Erlebnis gewesen. Ein dreigängiges Menü, eine
voll bestückte Bar, die Partner zu Hause gelassen bis zum Golfausflug für
Ehemalige samt Anhang am nächsten Tag; unschmeichelhafte Spitznamen wurden
verschwiegen, alte Feindschaften sorgsam ignoriert. Jeder wollte als
vorbildlich sozialisiert erscheinen und sich als erwachsener Mensch
präsentieren, der das Larvenstadium erfolgreich hinter sich gebracht hat. Sie
drückten Howard ihre Visitenkarten in die Hand, sie holten Fotos von Babys aus der
Brieftasche, zeigten ihre Eheringe vor und seufzten tragikomisch. Jede
Neuvorstellung wiederholte eine Wahrheit, die zugleich schockierend und völlig
banal war: Menschen wachsen heran und werden Kieferorthopäden.
Und
trotzdem war keiner von ihnen ganz überzeugend gewesen. Hat man einmal
gesehen, wie jemand Erbsen aus dem Nasenloch verschießt oder eine geschlagene
Viertelstunde lang vergeblich versucht, über ein Seitpferd zu klettern, kann
man ihn als UN-Delegierten oder Hedgefondsmanager in einer Privatbank nicht
mehr ernst nehmen, egal, wie viele Jahre seitdem vergangen sind. An dem Tag hat
Howard in der Turnhalle auch nicht weniger Persiflagen und Burlesken gesehen
als heute. Und er war die Persiflage per se, weil er tatsächlich die Seiten
gewechselt hatte, vom Schüler zum Lehrer geworden war, vom Kind zum Erwachsenen,
sozusagen - und es war einfach passiert, ein einzelnes Ereignis in
einer langen, verschlungenen Kette von Ereignissen, ohne irgendeine
nennenswerte Katharsis oder Epiphanie seinerseits, ohne jede innere Verwandlung
oder Entwicklung, die ihn etwas gelehrt hätte, das es wert gewesen wäre,
weitergegeben zu werden; stattdessen war es so gewesen, als hätte man in der
Geschichtsstunde eines der Kinder aus der mittleren Bankreihe gebeten, den
Unterricht zu übernehmen, nebenbei noch eine Hypothek abzuzahlen und sich zu
überlegen, ob es heiraten soll oder nicht.
Er
lässt den Blick über das Meer langsam auf und ab gehender Köpfe schweifen,
stellt sich seine Schüler in zwanzig Jahren vor, mit schütter werdendem Haar,
Bierbäuchen und Fotos von ihren eigenen Kindern in der Brieftasche. Spielen
alle auf der Welt dasselbe Spiel: sich als etwas auszugeben, was man nicht
ist? Könnte die düstere Wahrheit lauten, dass das System aus Einzelwesen besteht, von denen keins wirklich weiß, was es tut, die aus der Schule kommen und
in Schablonen rutschen, die ihnen durch Zufall oder Geburt offeriert werden -
Banker, Arzt, Hotelier, Verkäufer -, genau wie die Wesen hier sich heute, einer
arrangierten, unsichtbaren Symmetrie folgend, in Streber und Sportskanonen,
Schlampen und Sexprotze aufgeteilt haben -
»An
was denken Sie gerade?«, sagt eine
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