Muschelseide
nach ihm. Er fühlte sich gepackt, hochgezogen. Seine Hüften und Schenkel schlugen mit lautem Klatschen an eine Holzwand. Gaetano glaubte zu hören, wie seine Knochen barsten, und brüllte vor Schmerz laut auf. Er wollte sich aufrichten, es gelang ihm nicht. Jemand warf eine Decke über ihn. Er hörte Saburos Stimme, die seinen Namen rief; doch er trieb bereits in schwarzer Bewusstlosigkeit dahin. Er wusste nicht, dass die Maschinen der Trans ylvania auf ewig schweigen würden, dass er inmitten von Verletzten in einem Rettungsboot lag. Und dass Saburo, der längst gesehen hatte, was mit ihm war, der Mannschaft Befehl gegeben hatte, dem Lazarettschiff Matsu in höchster Eile entgegenzurudern.
Das alles erzählte Gaetano mit leiser, gefasster Stimme. Und ferner erzählte er, wie U-Boote auf der Rückreise die japanischen Schiffe einkreisten und unter Beschuss nahmen. Es gelang zwar den Japanern, die Angreifer erfolgreich abzuwehren, aber ein Volltreffer brach in das Heck der Sakaki ein. Deck und Zwischendeck wurden zermalmt. Das Geschoss hatte ungeheure Verwüstungen unter der Besatzung angerichtet. Weil die Schwerverletzten nicht transportfähig waren, stiegen die japanischen Ärzte an Bord, um die Verstümmelten zu operieren. Man versuchte, die Toten und die Halbtoten aus der Masse der noch glühenden Eisenteile zu befreien. Dort fand der Chirurg Takeo Araki auch seinen Bruder Saburo. Er erkannte ihn lediglich an dem blutgetränkten Tuch aus Muschelseide, das in seiner zerfetzen Uniform sichtbar war. Behutsam löste Takeo das Tuch und nahm es an sich. Es dauerte viele Stunden, bis alle Leichen aus dem Eisen loskamen. Dann erst konnten die Riten eingehalten werden und die Toten ihre Ruhestätte in den barmherzigen Fluten finden.
So erzählte Gaetano, bis seine Stimme brach und er vor meinen Augen in tiefen, bleiernen Schlaf glitt. Da erhob ich mich, wankte an meiner Mutter, die gerade in das Zimmer trat, vorbei, taumelnd, wie betäubt. Ich schleppte mich die Treppe empor, ging in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett. Das Bett, das Zimmer, alles kreiste um mich herum wie ein Strudel. Ich konnte nicht einmal mehr die Augenlider bewegen. Sterben, dachte ich, mag natürlicher als Leben sein. Vielleicht war ich auch schon längst tot. Ich vermutete, dass es Saburo einst gegeben hatte, aber dann wieder glaubte ich, dass es ihn nie gegeben hatte; und das Gefühl, dass er nur ein Traum gewesen war, nahm beständig zu. Sein Gesicht in meiner Erinnerung löste sich auf, auch ich löste mich auf. Bis ich auf einmal die Wahrheit erkannte: Saburo lebte, er lebte in seinem Kind. Ich war es, die gestorben war. Saburo hatte mich nur erträumt.
31. Kapitel
S eit meiner Kinderzeit war ich nie krank gewesen; auch war ich nicht gewöhnt, still zu sitzen. Jetzt litt ich unter Schwindelanfällen und Sehstörungen. Mir war kalt im Sommer, und der Gedanke, mich zu waschen, machte mich frösteln. Ich lag unter einer Decke oder saß verschlafen auf einem Stuhl. Manchmal war es, als würden die Tage nie enden; und wenn die Nacht kam, lag ich wach und zählte die Stunden bis zum Morgen. Nur der wachsende kleine Körper in mir, der sein ungeborenes Leben lebte, hielt mich zusammen, während meine Seele zerriss und sich im Dunkeln verlor. Und es war mein Kind mit seiner unverbrauchten Kraft, das mich am Ende einer Nacht endlich wissen ließ, was ich zu tun hatte. Am Morgen wusch und frisierte ich mich sorgfältig, zog ein leichtes Sommerkleid an, mit einem fröhlichen Streifenmuster. Ich lächelte, als ich merkte, wie das Kleid in der Taille spannte. Und dann klopfte ich an die Tür, trat mit leichten, beschwingten Schritten in Gaetanos Zimmer. Sein Kammerdiener Andrea hatte ihn gewaschen und rasiert, und Mutter hatte wie jeden Morgen seine Verbände erneuert – sie und ich wechselten uns ab –, und es gab Dienste, die nur sie verrichten wollte. Jetzt saß er aufrecht in die Kissen gelehnt. Andrea hatte das Zimmer gelüftet und aufgeräumt. Gaetano trug ein frisches Hemd und roch sauber. Doch seine Züge waren abgemagert und blass, seine Lippen verkrustet. Sein Mund war halb geöffnet, er atmete schwer. Er hatte ein ständiges Fieber, das nicht wegging, abends stärker, morgens niedriger. Als ich mich an sein Bett setzte, streckte er mir die Hand entgegen. Ich nahm sie, presste sie an meine Wange. Er lächelte mich an.
»Wie hübsch du aussiehst!«
»Hast du gut geschlafen?«
»Ja, gut. Das Zimmer ist ruhig.«
»Ein ruhiges Zimmer, sagt
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