Muschelseide
zu viel gewesen. Dr. Fonseca, der kurz darauf kam, stellte fest, dass er hohes Fieber hatte, und machte ein besorgtes Gesicht. »Mir bleibt kaum noch Zeit«, hatte Gaetano gesagt. Ich wollte nicht verstehen, was er wirklich gesagt hatte. Er ist ja noch so schwach, dachte ich, seine Wunden sind entzündet. Salvu, der alte Diener, der ihn ab und zu auf seinem Rücken in den Garten trug, kommt nicht mehr. Gaetano ist ständig müde, duldet nicht mehr, dass man ihn berührt. Auch ich bin müde. So furchtbar müde. Aber ich will nicht schlafen. Ich will auf Takeos Antwort warten. Ich schlug ein Buch auf, versuchte zu lesen. Aber die Augen fielen mir ständig zu. Ich sah die feuchten Flecken auf den Buchseiten. Tränen, Schweiß? Ich wartete, es nahm kein Ende. Da, endlich, die Kutsche! Die Haustür, die sich öffnete. Ich lief die Treppe hinunter. Der Concierge hielt einen Brief in der Hand, den er mir mit einer Verbeugung überreichte. Ich erkannte Gaetanos unbeholfene Handschrift, und mein Herz setzte aus.
»Signorina«, sagte der Concierge. »Ich konnte den Auftrag nicht ausführen. Die Matsu liegt nicht mehr im Hafen. Sie brach heute früh nach Port Suez auf, habe ich mir sagen lassen.«
Ich ging nach oben, klopfte leise an Gaetanos Tür und trat in sein Zimmer. Er lag nur halbwach, denn Dr. Fonseca hatte ihm Morphium gegeben. Doch er wandte mir leicht das Gesicht zu; eine Frage stand in seinen verschleierten Augen. Ich schüttelte den Kopf.
»Die Matsu macht Fahrt nach Port Suez.«
»Heute schon?«, murmelte er. »Wie ist das möglich? Sie hatten doch eine Havarie ...«
Eine Weile starrte er schweigend vor sich hin, düster, schwer. Dann zog er müde den Atem ein.
»Ach, ich habe kein Zeitgefühl mehr. Vernichte den Brief, Cecilia. Wir müssen es anders machen ...«
Er schlief ein paar Stunden. Als sein Kopf wieder klar war, ließ er mich kommen. Ich setzte mich an sein Bett, und wir sprachen leise miteinander. Er sagte, wir müssten es mit der Feldpost versuchen. Es kam allerdings häufig vor, dass Briefe konfisziert wurden oder verloren gingen. Gaetano hatte Saburos Adresse in Japan, die er mir gab. Ich betrachtete ratlos die fremden Schriftzeichen, doch Gaetano sagte:
»Du musst es darauf ankommen lassen. Auf die japanische Post sei Verlass, meinte Saburo. Setze dich nach Kriegsende sofort mit Takeo in Verbindung. Das Foreign Office wird dir behilflich sein. Aber zunächst muss ich mit den Eltern reden.«
Ich machte gewiss ein entsetztes Gesicht, denn er zeigte ein schwaches Lächeln.
» Sei ruhig, kleine Schwester. Es besteht eine Ehrenschuld ... «
Ehrenschuld. Zwar kannte ich die Bedeutung des Wortes, hörte es jedoch zum ersten Mal in Zusammenhang mit meinen Eltern. Und begriff es erst in seiner vollen Tragweite, als Gaetano mit den Eltern gesprochen hatte. Sie vergaben mir nicht, hatte ich sie doch belogen und hintergangen. Aber sie waren zu einer sauberen Gerechtigkeit verpflichtet und mussten mich schützen. Das, was auf See geschehen war, bewirkte, dass sie ein Mädchen wie mich, das gesündigt hatte, nicht mit Schimpf und Schande vertreiben konnten. Ihre Vorwürfe blieben stumm. Da aber auf die Familie eines solchen Mädchens ein Schatten fiel, stellten die Eltern Forderungen. Ich hatte Valletta zu verlassen, das Kind im Ausland auf die Welt zu bringen. Man würde den Londoner Verwandten die Umstände schildern und sie bitten, mich aufzunehmen. Nach einigen Jahren dann würde mir erlaubt sein, in mein Elternhaus zurückzukehren. Vielleicht fand ich inzwischen einen Mann, der bereit war, mich auch mit einem Kind zu heiraten. Es ließ sich auch das Gerücht von einem verfrühten Witwenstand in Umlauf bringen. Wie oft kam es vor, dass junge Ehemänner aus dem Krieg nicht zurückkehrten! Meine Eltern drängten mich, die Reise bald anzutreten. Noch war mir mein Zustand nicht anzusehen. Für mich und das Kind sei gesorgt: Vater würde eine angemessene Summe auf unserer englischen Bankfiliale deponieren.
Es war gewiss das Beste für mich, und ich war den Eltern sehr dankbar. Doch Gaetano war nicht zufrieden und sagte: »Noch nicht! Ich muss erst nachdenken!« Das Morphium tat sein Werk, sein Hirn war träge, er brauchte viel Zeit zum Überlegen. Sein Zustand verschlimmerte sich täglich. Der saubere weiße Verband verbarg die schwärzlich angelaufene Wunde mit den eiternden Knochenstümpfen. Er wusste, dass jede Hilfe vergebens war, und die Eltern wussten es auch. Nur ich wollte es nicht wahrhaben.
Weitere Kostenlose Bücher