Muschelseide
Francesca einen Aschenbecher heran und richtete ihre hochmütigen Augen auf Ricardo.
»Du hast schlechte Erinnerungen an mich, ich weiß. Ich habe dich geschlagen und getreten. Du warst das Nesthäkchen, ein freundliches Kind, von allen verhätschelt. Ich war eifersüchtig, verabscheute dich noch mehr als Lavinia, diese eitle Ziege. Soll es mir heute leidtun? Nun, ich gebe mir Mühe, hoffentlich weißt du es zu schätzen.«
Ricardo machte eine versöhnende Geste, ließ die Worte als Entschuldigung gelten. Francesca nickte und sprach weiter:
»Dann – mit sechzehn – fand ich das Tuch aus Muschelseide. Und Cecilias Tagebuch. Ich räumte Bücher aus dem Regal, als ich das Versteck entdeckte. Da saß ich nun auf dem Boden, zwischen Kisten und Schachteln, und jede Zeile flimmerte vor meinen Augen. Endlich erfuhr ich, wer mein Vater war und warum Cecilia sterben musste. Und mir wurde ebenfalls klar, dass ich mit achtzehn Erbin eines Vermögens werden würde. Noch zwei Jahre nur, und ich konnte dieses Haus, diese Menschen, die mir zuwider waren, verlassen. Damals keimte bereits der Gedanke in mir, der im Laufe der Jahre zur fixen Idee werden sollte und mich mein Leben lang nicht verlassen würde: diese japanische Familie zu finden, mich ihnen als ihre Tochter vorzustellen. Zwischen ihnen und mir lag eine Welt, aber ich fühlte mich stark genug, die Entfernung zu überwinden. Zunächst behielt ich dieses Wissen für mich, schöpfte aus ihm so viel Zorn und Kraft, dass ich allen die Stirn bot. So hielt ich durch. Rück blickend kann ich wohl sagen, dass wir uns gegenseitig das Leben zur Hölle machten, mit Tränen und Geschrei und allem, was dazugehörte, sogar Peitschenhiebe. Immerhin setzte ich es durch, dass ich die Kunstakademie besuchen konnte – für ein Mädchen aus der damaligen Zeit ein ungewöhnlicher und recht provokanter Entschluss. Und an meinem achtzehnten Geburtstag ließ ich mir einen Termin beim Notar geben und nahm mein Vermögen in Besitz. Die Neigung, mein Geld zu verprassen, hatte ich nie – im Gegenteil. Nach alldem, was ich mitgemacht hatte, war ich knauserig geworden. Inzwischen lag das Geld auf der Bank und trug Zinsen. Aber ich genoss meine Unabhängigkeit. Endlich tun und lassen zu können, was mir gefiel, weckte euphorische Gefühle in mir. Ich lebte zunächst in Paris, dann in New York. Es war Mitte der Dreißigerjahre, eine Zeit, in der Frauen früh heirateten, früh Kinder bekamen. Nichts für mich! Ich – ich wollte malen. Und ich wollte die Familie meines Vaters suchen.
Von ihm wusste ich nur den Namen: Saburo Araki. Und dass er aus einem Ort stammte, der Takayama hieß. Cecilia erwähnt in ihrem Tagebuch, dass sie seine Adresse hatte. Diese war nicht mehr auffindbar. Ich nehme an, dass Cecilia sie gesondert von ihrem Tagebuch aufbewahrt hatte, in ihrer Handtasche oder bei den Schmucksachen. Aber da war mir Melissa zuvorgekommen. 1937, kurz bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, fuhr ich zum ersten Mal nach Japan. Wo lag Takayama? Und wie sollte ich mein Anliegen vorbringen, wenn man auf den Behörden nur Japanisch sprach? In der englischen Botschaft in Tokio wurde mir eine junge Japanerin vorgestellt, die recht gut Englisch sprach und mich zu den japanischen Behörden begleitete. Ich hatte – wie ich bereits sagte – Fotografien von der Gedenksäule anfertigen lassen und hielt sie den Beamten unter die Nase. In Paris hatte ich die Bilder bereits Foujita gezeigt; ich wusste von ihm, wie man Saburo Araki auf japanisch schrieb. Die Beamten hörten sich meine Geschichte höflich und geduldig an. Sie hatten alle die gleiche Art, mein Anliegen zu prüfen, zögernd zunächst, dann ernst und sorgfältig. Ich erfuhr, dass Takeo Araki, der Chirurg, kurz nach Kriegsende in Takayama gestorben war. Seine Schwester Hatsue hatte geheiratet und ihren Heimatort verlassen. Weil auch die Mutter nicht mehr lebte, war Shinzo, der jüngste Bruder, mit der Schwester fortgezogen. Die Sache wurde nicht einfacher, sondern zunehmend komplizierter. Außerdem konnte ich nicht mehr bleiben. Man sprach von Krieg, das Reisen innerhalb des Archipels wurde beschwerlich. Die Eisenbahnzüge kamen ungewöhnlich langsam voran: Truppentransporte hatten Priorität. Das Radio sendete Hetzmeldungen. Ich fiel auf, zwangsläufig, man prüfte stundenlang meine Papiere. Und Misstrauen überall, wie das in solchen Zeiten so ist. Ich hatte es satt und schiffte mich wieder nach New York ein. Und spätestens bei Japans Eintritt in
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