Muschelseide
den Krieg wurde mir klar, dass mein unbekannter japanischer Vater mir plötzlich als Hindernis im Weg stand. Ich war nicht gesprächig, wie man das glauben könnte, hatte nicht jedem, der es hören wollte, alles von mir erzählt. Das ersparte mir viele Demütigungen. Zum Beispiel, dass ich als Halbjapanerin von heute auf morgen als Mensch zweiter Klasse galt und in den Rocky Mountains in ein Arbeitslager gesteckt worden wäre. Das alles machte mich fast kaputt. Eine Zeit lang trank ich, malte im benebelten Zustand Bilder, die meine Gefühle recht lebhaft zum Ausdruck brachten. Ich wollte, dass die Kritiker mich hassten. Aber die Bilder passten in das Zeitgeschehen. Sie verkauften sich immer besser.
1947 ging ich zum zweiten Mal nach Japan. Es war schwierig, mich in dem zerbombten, verarmten Archipel zurechtzufinden. Japan war nicht mehr das Land Madame Butterflys, das Land meiner verschwommenen Sehnsüchte. Ich besuchte Hiroshima. Dabei spukte mir ein Satz aus dieser Zeit, den ich irgendwo gelesen hatte, ständig im Kopf herum: ›Wenn eine Atombombe zwanzigtausend gewöhnlichen Bomben gleichkommt, macht dieses erhebliche Ergebnis der wissenschaftlichen Intelligenz alle Ehre.‹ Ich weinte in Hiroshima. Es fiel nicht einmal auf: Alle, die nach Hiroshima kamen, weinten. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Kein Mensch aus Fleisch und Blut, der so etwas wie ein Gewissen hat, kann nach Hiroshima gehen, ohne zu weinen. Ohne sich zu fragen: Warum, warum? Nur Wahnsinnige können das. Aber sie sind unter uns, und eines Tages werden sie wieder zuschlagen. Wenn ich Glück habe, erlebe ich das nicht mehr. Aber ich rede zu viel, das ist das Alter. Zurück zu meiner Geschichte also: Ich sprach wieder bei den Behörden vor. Dass die Beamten mich bei dem Chaos, das im Land herrschte, nicht zum Teufel wünschten, war ein Wunder. Sie zeigten, im Gegenteil, noch mehr Geduld. Am Ende konnte ich einen gewissen Herrn Otani, der beim Standesamt arbeitete, für mein Anliegen gewinnen. Mein guter, zuverlässiger Herr Otani! Er fand heraus, dass Takeos verheiratete Schwester Hatsue in Kyoto lebte. Ich fuhr also nach Kyoto. Unter den amerikanischen Strategen befanden sich damals noch einige kultivierte Menschen, die angeordnet hatten, dass die Stadt mit ihren kostbaren Tempeln und Palästen verschont bleiben sollte. Aber mir stand nicht der Sinn nach Sehenswürdigkeiten. Und ich kann wohl behaupten, dass ich besonders hartnäckig vom Pech verfolgt wurde. Ich brachte nämlich in Erfahrung, dass Hatsue einen Geschäftsmann aus Tokio geheiratet hatte und inzwischen den Namen Suzuki trug. Ausgerechnet Suzuki, einen der üblichsten und alltäglichsten Namen in Japan! Noch schlimmer: Das Ehepaar Suzuki wohnte nicht mehr in Kyoto, sondern war nach Tokio gezogen. Man darf nicht vergessen, es war kurz nach Kriegsende. Bei den Behörden ging es noch sehr unorganisiert zu. Um Hatsues Spur unter den Abertausenden Suzukis zu finden, die die japanische Hauptstadt bevölkerten, brauchte es Zeit – viel Zeit. Warum, jammerte ich Herrn Otani die Ohren voll, war diese Frau nicht in Kyoto geblieben? Herr Otani meinte, es könnte an ihren Schwiegereltern gelegen haben. Es käme oft vor, dass die Söhne mit ihrer Familie wieder zu den betagten Eltern zögen. Und wie stand es mit Shinzo, dem jüngsten Bruder? Man wusste nicht, was aus ihm geworden war. Ich hätte mir die Haare ausreißen können. Doch kein noch so großes Hindernis konnte Herrn Otanis Pflichtbewusstsein und Langmut erschüttern. Er versprach, sich weiter zu bemühen. Bevor er in Rente ging, tat er sein Möglichstes. Doch seine Nachforschungen führten zu nichts. Shinzo, in den ich viel Hoffnung gesetzt hatte, blieb unauffindbar. 1987 verstarb Herr Otani an Krebs. Es war vorbei.
Inzwischen lebte ich mein Leben. Ich heiratete nacheinander zwei Amerikaner, danach einen Brasilianer. Alle drei Ehen gingen in die Brüche. Ich duldete keinen Mann neben mir, der mich in einem Käfig der Abhängigkeit hielt. Ohne Zerstörung gibt es keinen Aufbau. Wenn ich vor meiner Staffelei stehe und arbeite, erkenne ich in meinen stillen Gedanken die Gestalten meines Vaters und meiner Mutter. Die Stimmen der Toten rufen die Seele; ihnen zu folgen, zu den Toten hinabzusteigen, heißt sich zu erkennen. Die Wunden, die der Körper erleidet, heilen. Die inneren Wunden aber, die seelischen, müssen wir bewahren, denn sie machen uns stark. Dieser Gedanke ist sehr konkret, jedenfalls in Bezug auf mich. Ich male
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