Muschelseide
ebbte ab, doch tief in meinem Bauch spürte ich den langsamen Puls des Blutes. Ich legte beide Hände auf meinen Leib, sprach zu dem Kind, wie ich es oft tat. Ich war überzeugt, dass es mich hören konnte.
»Hilf mir, sei so gut! Ich brauche dich jetzt so nötig. Ich will noch nicht tot sein! Komm, mach mich stark ... «
Der Schmerz klang ab, der Schweiß an mir trocknete. So winzig klein, wie es war, hatte das Kind mein Flehen erhört. Doch ich wusste auch, dass ich jetzt nicht mehr reisen konnte. Wollte ich mein Kind lebend zu Welt bringen, durfte ich Valletta nicht verlassen.
32. Kapitel
J ames war beurlaubt worden; er traf einen Monat später mit Melissa ein, um sich vor Gaetanos Grab zu verneigen. Zu mir waren beide kalt und abweisend. Es war ihnen mitgeteilt worden, was mit mir war, und sie ließen mich ihre Missachtung spüren. Es mochte auch sein, dass sie an den Teil des Vermögens dachten, der ihnen und ihren eigenen – noch ungeborenen – Kindern entgehen würde. Die Eltern machten Front. Sie trugen ihre Verpflichtung mit Widerwillen, aber sie mussten achtbar handeln, alles andere wäre ehrlos gewesen. Nur wenige Lebensalter hinter ihnen lag die Zeit des alten Stolzes und der strengen Erziehung, nicht weit genug, als dass es sie nicht geprägt hätte. Da ihr Ansehen jedoch auf dem Spiel stand, waren Maßnahmen unumgänglich. Mein Schwächeanfall bei der Beerdigung lieferte den Vorwand zu einer Notlüge, einer von vielen: Gaetano hätte mich mit seiner Lungenentzündung infiziert. Der Arzt hätte mir strikte Bettruhe und später eine Kur verordnet. Die weniger verlässlichen Dienstboten wurden entlassen, darunter auch Timeo. Die Wahrheit wurde auch vor Dr. Fonseca verheimlicht; er war durch seine gesellschaftliche Stellung allzu exponiert. Stattdessen ließ Mutter eine Hebamme kommen, die als besonders erfahren galt. Sie musste sich schriftlich zur Schweigepflicht bekennen und wurde großzügig dafür entlohnt.
Und so hüte ich also das Bett. Die Hebamme – sie heißt Gabriela Vilhena – hat angeordnet, dass ich viel liegen muss. Sie ist eine mütterliche Frau, gutherzig, aber streng. Sie hat mir auch nicht verheimlicht, dass mir eine schwere Entbindung bevorsteht. Sie hat mir sogar das Treppensteigen untersagt. James und Melissa sind wieder abgereist. Sogar die Eltern sind froh, sie los zu sein. Sie brachten eine frostige Stimmung ins Haus. Indessen, keiner weiß, dass ich noch da bin. Ich darf mein Zimmer nicht verlassen. Allerdings ertrage ich mein Eingesperrt- sein immer weniger. Bei dem Bewegungsdrang, den ich stets hatte! Aber ich muss durchhalten, den Eltern zuliebe, darf sie um keinen Preis blamieren. Ich verbringe viel Zeit damit, die Muschelseide mit einer ganz feinen Häkelnadel und Seidengarn zu vernähen, damit der Rand nicht ausfranst, doch meine Finger sind klamm vor Schweiß, die Nadel verfärbt sich. Mein Tagebuch ist mein einziger Trost. Die Vergangenheit wird nicht vergessen; sie wird, indem ich sie niederschreibe, umso sorgfältiger verwahrt. Und so sitze ich aufrecht in den Kissen und schreibe. Die Zeit der Freiheit, des unbeschwerten Glücks ist dahin. Es mag sein, dass ich mein Leben einsam verbringen werde. Aber ich bin ruhig in meinem Herzen und dankbar, dass ich, so unbesonnen ich auch war, zwei Männer gekannt habe, die mir nur das Gute und Schöne zeigten in einer Welt, in der Zerstörung und Leid herrschen. In einer Zeit, da schreckliche Dinge geschehen, schreibe ich von Liebe, Treue und Mut. Ich schreibe auch von der Zukunft. Takayama heißt die Stadt, in der Saburos Wiege stand. Sobald sich die Kriegswolken verziehen, werde ich mich nach Japan einschiffen. Saburos Kind ist das Geschenk, das ich der trauernden Familie überreichen will. Dieses Kind – Mädchen oder Knabe – soll den Sohn ersetzen, den sie verloren haben. Als Gegengabe werde ich um die Muschelseide bitten, die Saburo auf dem Herzen trug, als er starb. Ich werde beide Teile wieder zusammennähen, Stich für Stich, und Saburos Blut mit meinen Tränen mischen. Doch diese Zeit – wird sie jemals kommen? Oft ist mir, als gehörte ich selbst nicht mehr zu den Lebenden. Es ist Krieg, aber man spielt Tennis und Kricket wie zuvor; man veranstaltet Wohltätigkeitsbasare, Teegesellschaften, Tanzabende. Und in der Oper steht »Madame Butterfly« wieder auf dem Spielplan.
Der Monat Oktober ist erstickend heiß. Der Sommer, dieser furchtbare Sommer, will nicht weichen. Mehr noch als unter der Hitze leide ich
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