Muschelseide
sichtbar sein mochte. Es klang idiotisch und wahnwitzig, aber vor der Staffelei vergaß sie offen bar, dass Cecilia tot war und sie selbst eine alte Frau. Eine Sekunde lang stand die Zeit still, undurchdringlich, unheimlich, lastend. Schließlich, und weil ich ja etwas sagen musste, nickte ich ihr zu.
»Du hast hier eine gute Lehrerin.«
Sie sah mir voll ins Gesicht. Ihre schwarzen Augen hatten jetzt einen verstohlenen Blick, rätselhaft und unbändig.
»Ja, die Toten sind unsere Lehrer. Wir müssen sie in unsere Nähe holen, mit ihnen sprechen. Die Toten haben ihren eigenen Lebenslauf, ihre eigenen Kleider, ihre eigene Geschichte. Die Toten wie Lebende zu lieben und, umgekehrt, uns selbst wie Unsterbliche zu empfinden, darin liegt das große Geheimnis für den Ursprung der Kunst. Hören wir die Stimmen der Toten, hat die Nacht keine Dunkelheit mehr. Deshalb bin ich zurückgekommen. Weil ich in Cecilias Nähe sein will. Bei Cecilia ist die Finsternis ganz klar.«
14. Kapitel
A m nächsten Morgen rief ich Nona an. Zunächst ging ein Jugendlicher ans Telefon. Ja, die Mutter käme sofort. Er ging sie holen, und ich hörte im Hintergrund das Klappern von Geschirr und Gelächter. Endlich meldete sich Nona. Zum ersten Mal vernahm ich ihre Stimme, die klangvoll und fröhlich war. Sie sei gerade dabei, Rührei für das Frühstück zu schlagen, und Carlo, ihr Sohn, müsse jetzt weitermachen. Sie sprach maltesisch, was mich einigermaßen erstaunte. Das »Malti« – wie wir unsere Sprache nennen – stammt aus dem Nordafrikanisch- Arabischen. Später kamen Englisch und Italienisch hinzu. Für gewöhnlich tun sich Ausländer schwer mit dem »Malti«, aber Nonas Akzent war reizend, ihre Aussprache nahezu perfekt. Ich sagte, dass ich ihre Mutter in Cagliari getroffen hätte.
»Oh, das freut mich aber! Wie geht es ihr?«
»Sie machte einen zufriedenen Eindruck. Sie findet sich in ihrem Haus zurecht, als ob sie sehen könnte.«
»Ja, das ist erstaunlich, nicht wahr? Und wie geht es Milo? « »Milo geht es auch gut.«
»Ich würde sie ja gern zu uns nehmen«, sagte Nona, »wir haben ein großes Haus und viel Platz. Aber Mutter betont immer wieder, dass sie uns nicht zur Last fallen will.«
Wir unterhielten uns noch einen Augenblick über Decima, bevor ich zur Sache kam. Nona lachte plötzlich nicht mehr. Ihre Aufmerksamkeit war aus der Intensität ihres Schweigens deutlich spürbar. Schließlich sagte sie:
» Es hört sich gewiss unglaublich an, aber ich habe ausgerechnet in dieser Nacht geträumt, dass ich tauchte und eine Steckmuschel fand. Ich befreite die Muschel von ihrem Byssus, ohne sie zu verletzen. Das Büschel fühlte ich ganz deutlich in meiner Hand – und war beim Aufwachen richtig erstaunt, dass ich es nicht neben mir auf dem Kopfkissen fand. Aber es war ja nur ein Traum: Ich – ich kann nämlich nicht tauchen. Ich schwimme wie ein junger Hund, sagt Lorenzo, mein Mann.« Abermals klang ihr lustiges Lachen durch den Hörer. Dann wurde ihre Stimme wieder ernst. »Wissen Sie, der Traum hat mir viel zu denken gegeben. Meine Mutter sprach fast täglich von der Zeit, als sie noch Muschelseide webte. Ich besitze auch ein Babymützchen, das sie für mich hergestellt hat. Ich werde es Ihnen zeigen. Meine kleinen Söhne haben es noch getragen. Ich persönlich webe nur Leinen und Bombyx. «
»Ja, das hat mir Decima auch gesagt.«
»Leute, die Geld haben, lassen sich Betttücher aus Rohseide weben. Sie werden bei jedem Waschvorgang weicher und glänzender. Aber mit Muschelseide zu arbeiten, ach Gott, wenn das nur wahr würde! Es war stets mein innigster Wunsch.«
»Wir müssen das alles in Ruhe besprechen«, sagte ich. »Wann kann ich Sie besuchen? Morgen?«
»Nein, leider erst am Montag. Wir gehen für zwei Tage nach Nadur. Lorenzos Schwester heiratet. Kommen Sie mit Ihrem eigenen Wagen?«
»Ja.«
»Rufen Sie mich an, wenn die Fähre eintrifft. Dann erkläre ich Ihnen, wie Sie fahren müssen. Unser Haus ist ganz leicht zu finden.«
Ich bedankte mich und wünschte ihr ein schönes Wochenende. Dass ich warten musste, widersprach meinem Tatendrang. Gerade überlegte ich, ob es sich vielleicht lohnte, im Voraus nach Gozo zu fahren und einige Tauchgänge zu machen, als das Telefon klingelte.
Ich griff zum Hörer.
»Ja? «
Eine fremde Männerstimme wünschte mir guten Morgen. »Spreche ich mit Frau Beata Sforza? «
»Ja, ja«, wiederholte ich, etwas ungehalten. »Haben Sie vorher schon angerufen?«
»Ja,
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