Muschelseide
Sie, der Friedhof ist groß. Es kann aber auch sein, dass ich sie nicht beachtet habe. Kinder sehen ja meistens nur das, was sie vor der Nase haben.«
Kazuo sprach weiter.
»In Valletta angekommen, suchte ich zuerst das Verkehrsbüro auf. Man gab mir eine Karte, auf der der Friedhof eingetragen war. Ich nahm ein Taxi. Der Fahrer brachte mich zu einem Friedhof. Ich entließ ihn, weil ich mit dem Bus zurückfahren wollte. Es stellte sich heraus, dass es der falsche Friedhof war und dass der Bus nur jede Stunde fuhr.«
»Zweifellos war er gerade abgefahren.«
»O ja. Ich setzte mich auf eine Bank und döste. Und kein Schatten weit und breit. Am nächsten Tag nahm ich wieder ein Taxi. Diesmal verfuhr sich der Fahrer. Es war sehr abenteuerlich. Als wir endlich zum Friedhof kamen, war Mittag vorüber und das Tor geschlossen. Beim ersten Mal sagt man sich, das war eben Pech, beim zweiten Mal sagt man sich, so kann das nicht weitergehen. Und da Sie die einzige Person auf Malta sind, die ich kenne ...«
»Ich sehe schon«, sagte ich lachend. »Und es stimmt, dass der Friedhof in der heißen Jahreszeit nur halbtags geöffnet ist. Es kommen ja kaum Besucher, die Leute gehen lieber an den Strand. Hören Sie, ich werde mal mit meinem Vater sprechen. Er war Offizier im Zweiten Weltkrieg. Informationen finden Sie gewiss auch in der Nationalbibliothek. Inzwischen, wenn Sie es wünschen, fahre ich Sie morgen gern zum Friedhof.«
»Oh«, rief er erfreut, »hätten Sie denn Zeit?«
»Ich nehme erst am Montag die Fähre nach Gozo. Bis dahin bringt es mich auf andere Gedanken.«
» Ich danke Ihnen sehr«, sagte er.
»Keine Ursache. Statt Probleme zu wälzen, kann ich auch Friedhöfe besuchen.«
Er hätte glauben können, dass dies meine Art sei, in scherzhaftem Ton von meinen Angelegenheiten zu sprechen, doch er ging nicht darauf ein. Seine Augen sahen mich immer ein wenig von der Seite an. Die Pupillen leuchteten warm und teilnehmend.
»Was werden Sie auf Gozo machen?«, fragte er. »Tauchen?« Ich nickte.
»Der Zufall führte mich auf die Spur einer Muschel, die nur im Mittelmeer wächst. Leider ist das Mittelmeer schon so verseucht, dass viele Arten in Gefahr sind. Und diese eben auch. Aber Gozo hat wenig Industrie, die Gewässer sind sauber. Ich will sehen, ob die Muschel doch noch vorkommt.«
»Um welche Muschel handelt es sich?«
»Kennen Sie Muschelseide?«, fragte ich.
Er sah mich überrascht an.
»Gibt es so etwas denn?«
Der Kellner räumte die Teller fort; während wir auf den Hauptgang warteten, löste ich den Schal und breitete ihn vor Kazuo im Licht aus. Lächelnd sah ich zu, wie auch er der Faszination der Farben, der eingewebten Formen erlag. Ich sagte, dass der Schal einer Großtante gehört hatte, die Schwester jenes Offiziers eben, dessen Grab wir morgen besuchen würden. Und ich erzählte, wie ich im Auftrag von Azur nach Sardinien geflogen war, wie der Verstorbene schattenhaft näher und näher gekommen war, in der Erinnerung einer Blinden eingefangen, die sehende Finger hatte. Und endlich sprach ich von Nona, der vielleicht letzten Hüterin einer uralten Kunst, die ich auf Gozo besuchen wollte.
Als ich alles erzählt hatte, sagte er:
»Jeder von uns erlebt mal ein Wunder. Die Welt ist noch voller Geheimnisse. In meinen Augen jedoch ist der radikale – jedenfalls pathologische – Pessimismus durchaus angebracht. ›Die Ereignisse sind nur Schaum auf den Wellen der Dinge‹, schrieb Paul Valéry, der französische Dichter. Valéry lag völlig falsch. Wir haben inzwischen die Atombombe erfunden. Und das Plastik, das einzige Material, das die Umwelt nicht abbauen kann.«
»Und wer liest heute noch Paul Valéry? «, seufzte ich und stellte gleich dazu eine Frage, die eigentlich recht unhöflich war:
»Sind Sie ein religiöser Mensch?«
Er antwortete belustigt.
»Oh, wir Japaner sind nicht religiös in dem Sinne, wie Christen, Moslems oder Juden es sein mögen. Wir glauben eher an die Göttlichkeit der Natur. Unsere Moralprinzipien kamen aus China und wurden zunächst schlecht aufgenommen. Akribisch, wie wir sind, haben wir mit der Zeit gelernt, sie zu praktizieren. Nicht die Mystiker siegten, sondern die Intellektuellen. Aber in uns besteht nach wie vor der urtümliche Kern. Wenn wir in unserer Dichtung sagen, dass der Regen sein Gewand schüttelt und die Felsen ihr Haar im Meer kämmen, kommen wir diesem Gefühl sehr nahe. Solche Empfindungen sind im Grunde nicht zeitgenössisch. Das hat
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