Muschelseide
vorwurfsvoll.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bin Maltesin und neige zu starken Hüften, ob ich nun Diät halte oder nicht.«
»Trostsuche?«
Sie sah mich an. Ich wandte die Augen ab.
»Ja, das auch.«
Damit sie nicht weiter bohrte, stellte ich rasch die Schachtel auf den Tisch und befreite die Muschel aus ihren Wattenschichten.
»Die sieht aber nach nichts aus«, meinte Annabel. »Tarnung«, sagte ich. »Außerdem ist sie noch sandig.« »Wie groß kann sie werden?«
»In Einzelfällen fast einen Meter. Sie wächst im Gegensatz zu anderen Muscheln schnell. Und sie kann zwanzig Jahre oder älter werden. Diese ist ungefähr zwei Jahre alt, sie produziert schon ihre Bartfasern, siehst du? Die Muschel bohrt die Fäden in den Sand und hält sich daran fest. Wird sie ausgerissen, kann sie sich mit Hilfe ihres Fußes fortbewegen. Sie sucht eine geeignete Stelle, gräbt sich neu ein und richtet sich wieder auf.«
Annabels Erdbeermund zeigte ein Lächeln, das ausgesprochen betörend war.
»Sie ist gar nicht so dumm, diese Muschel!«
»Sie ist sogar ausgesprochen clever. Vielleicht, weil sie ein Zwitter ist«, setzte ich mit Nachdruck hinzu.
Annabel zwinkerte mit beiden Augen gleichzeitig.
»Ach, spielt das eine Rolle?«
»Ich denke schon«, erwiderte ich düster. »Die Pinna nobilis produziert sowohl männliche wie weibliche Keimzellen, nicht gleichzeitig allerdings, sondern in einer jahreszeitlichen Abfolge.«
»Das könnten wir uns zum Vorbild nehmen, denkst du nicht auch?«
»Meinst du das als Allegorie?«
»Ich sehe schon, du brauchst Ablenkung«, sagte Annabel. »Ja, und ein zweites Stück Torte.«
»Um Himmels willen!«, stöhnte Annabel.
Ich stopfte den Kuchen in mich hinein, während Annabel die Muschel eingehend betrachtete.
»Und wie entsteht die Seide?«
»Hier, aus den Bartfasern.«
Ich zeigte ihr die heraushängenden Byssusfäden, die bei dieser Muschel kaum mehr als fünf Zentimeter lang waren.
»Bei ausgewachsenen Exemplaren können sie bis zu zwanzig Zentimeter lang werden. Sie sind sehr dünn – weniger als ein Zehntelmillimeter, aber äußerst reißfest.«
»Dieses unansehnliche Büschel?«
Ich erklärte ihr den Arbeitsvorgang, den ich von Decima erfahren hatte. Annabel lehnte sich in dem Korbstuhl zurück und verschränkte die Arme. Ihre Haltung war genau die eines Mannes. Ihr Handy lag ausgeschaltet auf dem Tisch, was ich als gutes Zeichen deutete.
»Das hört sich zwar wissenswert an«, meinte sie schließlich. »Aber was ich jetzt sehen möchte, ist das Warenmuster.«
Ohne ihren zweifelnden Ton zu beachten, nahm ich den Schal, den ich unter dem Sommerblazer trug, von meinem Hals. Ich breitete ihn aus, indem ich ihn leicht schüttelte und in die Luft warf. Annabels Nixenaugen zogen sich vor Uberraschung zusammen. Es gab einen leichten Lufthauch; der Schal glänzte im aufgefangenen Licht, schillerte bei jeder Bewegung in Smaragd, Blau-Rosa und Gold. Als ich ihn ins Gegenlicht hielt, wurde er durchsichtig wie eine Wasserhaut, wobei die eingewebten Muster als Schattenbild sichtbar wurden wie eine Holografie.
»Allmächtiger!«, hauchte Annabel. »Das habe ich noch nie gesehen. Ist das Muschelseide?«
»Das ist Muschelseide. Das teuerste Gewebe der Welt.« »Und wie alt ist der Schal?«
»Meine Urgroßtante starb 1918.«
»Wärmt der Stoff?«
»Wie Pashmina. Und ist dabei so fein, dass du ihn durch einen Ring ziehen kannst.«
Annabel holte hörbar Luft.
»Ich bin beeindruckt. Nein, du hast nicht übertrieben. Es könnte eine Sensation werden. Aber woher bekämen wir das Rohmaterial?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich offen zu. »In Italien ist die Muschel geschützt. Der Fang ist seit einigen Jahren verboten. Wir müssten das Projekt über das Institut für Meeresbiologie der Universität Cagliari laufen lassen.«
Sie dachte nach.
»Bürokratischen Hindernissen misstraue ich sehr. Bis die Akten abgestaubt sind, vergehen Jahre. Und wenn ein Unternehmen schnell ist, dann Azur. Man wird mir im Verwaltungsrat Fragen stellen, die nüchtern und präzis sind. Bleiben sie unbeantwortet, gehen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt über. So einfach ist das.«
»Hör zu, Annabel. Die Pinna nobilis wächst auch in Malta. Ich habe mir sagen lassen, dass es noch Bestände gibt.« »Könnte man die Muschel züchten?«
»Das auch. Und es soll eine Methode geben, die Bartfasern so zu gewinnen, dass die Muschel sich regenerieren kann. Ich werde mich informieren.«
»Gut. Aber wer
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